VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 07.02.2008 - 8 UE 1913/06.A - asyl.net: M12596
https://www.asyl.net/rsdb/M12596
Leitsatz:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für junge, alleinstehende Männer in Afghanistan, die keiner religiösen Minderheit angehören.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, alleinstehende Personen, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Sicherheitslage, medizinische Versorgung, Wohnraum, Kabul, RANA-Programm, IOM, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für junge, alleinstehende Männer in Ägypten, die keiner religiösen Minderheit angehören.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Berufung ist auch begründet, denn das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (künftig: Bundesamt) zu Unrecht verpflichtet, gem. § 31 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), vorliegen; der Überprüfung dieser Entscheidung im Berufungsverfahren ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats zugrunde zu legen (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).

Eine den ledigen und inzwischen volljährigen Kläger vor einer Abschiebung nach Afghanistan schützende Abschiebestoppregelung im Sinne der §§ 60 Abs. 7 S. 3, 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG n.F. existiert in Hessen spätestens seit der Bekanntgabe der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 18./19. November 2004 und vom 23./24. Juni 2005 (vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27. Juli 2005, StAnz. S. 3258) nicht mehr. Nach den von der Innenministerkonferenz damals beschlossenen Grundsätzen zur Rückführung und weiteren Behandlung der afghanischen Flüchtlinge hat der Kläger vorrangig mit zwangsweiser Abschiebung nach Afghanistan zu rechnen, da Ziff. 2. dieser Grundsätze folgendes regelt:

"Ebenfalls mit Vorrang zurückzuführen sind volljährige, allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Beschlussfassung noch keine sechs Jahre im Bundesgebiet aufhalten."

Durch diese Änderung der Anordnung nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG ist keine durch verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu schließende Schutzlücke entstanden.

Der inzwischen volljährige Kläger wäre im Falle einer erzwungenen Rückkehr nach Afghanistan zwar einer nicht unerheblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, wie sie der überwiegende Teil der afghanischen Bevölkerung derzeit allgemein erleidet. Die Verwirklichung dieser Gefahren droht ihm jedoch nicht mit jenem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, den das Bundesverwaltungsgericht für eine verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 (früher: S. 2) AufenthG voraussetzt (Beschluss vom 14. November 2007, a.a.O.): ...

Zusammenfassend lässt sich aus den verwerteten Erkenntnisquellen die auch aus den übrigen, hier nicht ausdrücklich zitierten Quellen gespeiste Erwartung ableiten, dass der Kläger als junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne schwer wiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland dort zwar keine Eingliederungshilfe durch den afghanischen Staat, ausländische Hilfsorganisationen oder die eigene Familie zu erwarten hätte, aber aufgrund seines Lebensalters und des Fehlens familiärer Bindungen mit daraus resultierenden Unterhaltslasten wahrscheinlich in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul oder auch in seiner Heimatstadt Mazar-i Sharif wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Zwar sprechen manche von den Gutachtern mitgeteilte Details auch für die gegenteilige Schlussfolgerung, jedoch lässt sich daraus allein nicht die für eine analoge Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit ableiten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre. Angesichts der zahlreichen Rückkehrer nach Afghanistan und der ständig anwachsenden Bevölkerungszahlen insbesondere in Kabul ist der Senat davon überzeugt, dass dort trotz zahlreicher Todesfälle durch Mangelernährung und anderweitige Unterversorgung gerade für junge, arbeitsfähige Männer Überlebenschancen bestehen, auch wenn sie nicht durch eine bedarfsgerechte Ausbildung und familiäre oder sonstige Beziehungen begünstigt werden. Unter diesen Umständen kann es nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden, dass die obersten Landesbehörden dieser Personengruppe seit 2005 den früher kollektiv eingeräumten Abschiebungsschutz entzogen haben.

Wegen der angespannten Sicherheitslage ist zwar nicht auszuschließen, dass der Kläger, der nicht selbst besondere Gefährdungsmerkmale wie etwa eine in Afghanistan nicht verbreitete Religionszugehörigkeit aufweist, zufällig Opfer auch schwerster Gewalttaten wird, wie sie in beiden eingeholten Gutachten glaubhaft geschildert worden sind. Da diese Ereignisse zwar zahlreich, aber gemessen an der gesamten Einwohnerzahl Afghanistans bzw. der beiden als Rückkehroption in Betracht kommenden Städte doch nicht so häufig sind, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen wäre, dass der Kläger selbst Opfer von Selbstmordanschlägen, Bombenexplosionen oder vergleichbaren Ereignissen werden bzw. durch Raubüberfälle oder durch andere schwere Straftaten nachhaltig in seiner körperlichen Integrität verletzt werden oder seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage gänzlich verlustig gehen wird, kann nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden, dass der Kläger durch eine Abschiebung nach Afghanistan "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, a.a.O.).

Der Kläger genießt auch keinen subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG n.F., weil er bei einer erzwungenen Rückkehr nach Afghanistan dort nicht als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Denn der derzeit anhaltende bewaffnete Konflikt in Afghanistan zwischen regulären afghanischen Einheiten und internationalen ISAF-Truppen einerseits und Taliban-Verbänden und anderen Aufständischen andererseits erreicht graduell und nach der Dichte der Militäraktionen nicht das Ausmaß, das § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG n.F. beziehungsweise der durch diese Vorschrift umgesetzte Art. 15 lit. c QRL voraussetzen.

Mit den Auswirkungen des Art. 15 lit. c QRL auf die Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG hat sich das Bundesverwaltungsgericht bisher - soweit ersichtlich - noch nicht inhaltlich auseinandergesetzt. Der erkennende Senat hat sich damit bisher nur vor deren Umsetzung in das Aufenthaltsgesetz befasst und zu der hier interessierenden Frage mit Beschluss vom 26. Juni 2007 - 8 UZ 452/06.A - (AuAS 2007, 202 = NVwZ-RR 2008, 58 = juris Rdnr. 47 f.) folgendes ausgeführt:

"... ist nach dem am 10. Oktober 2006 erfolgten Ablauf der Umsetzungsfrist mit Art. 15 c) i.V.m. Art. 18 QRL ein neuer Unterfall zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinzugetreten, der bis zu seiner vollständigen Umsetzung in das deutsche Recht unmittelbar anzuwenden ist (vgl. u.a a. Hess. VGH, Urteil vom 9. November 2006 - 3 UE 3238103.A - juris Rdnr. 20; Bayer. VGH, Urteil vom 26. Februar 2007 - 13 a B 06.31169 - juris Rdnr. 20), so dass im Anwendungsbereich dieses besonderen internationalen subsidiären Schutzes eine Differenzierung zwischen allgemeinen Gefahren und solchen nicht allgemeiner Art, der Maßstab einer extremen Gefahrenlage und das Erfordernis einer verfassungswidrigen Schutzlücke nicht heranzuziehen sein dürften (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 21. Mai 2007 - 4 K 2563/07 - juris Rdnr. 18; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, Rdnr. 213 zu § 7, S. 708; Begründungszusammenhänge der Urteile des Hess. VGH vom 9. November 2006 und des Bayer. VGH vom 26. Februar 2007 jeweils a.a.O.; unklar OVG NW, Beschluss vom 21. März 2007 - 20 A 5164/04.A - juris Rdnr.30; eher a.A. OVG Schl.-H., Beschluss vom 22. Dezember 2006 - 1 LA 125/06 - juris Rdnr. 7).

Der Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes unmittelbar aus Art. 15 c) QRL ist aber auf solche ernsthaften Schäden begrenzt, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zu bewaffneten Konflikten und kriegsgleichen Zuständen ab einer bestimmten Größenordnung hinsichtlich Intensität und Dauer, wie etwa landesweiten Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen stehen, während die mit solchen Konflikten allgemein für die Bevölkerung mittelbar verbundenen nachteiligen Konsequenzen, wie etwa eine schlechte Sicherheits- und Versorgungslage, jedenfalls hinsichtlich ihrer nachträglichen Auswirkungen nicht darunter fallen; eine in den Anwendungsbereich des Art. 15 c) QRL fallende gegenwärtige landesweite Bürgerkriegssituation ist danach sowohl für den Kongo (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 9. November 2006 a.a.O.) wie auch für den Irak abgelehnt worden (vgl. Bayer. VGH, Urteil vom 26. Februar 2007 a.a.O.). Danach kann auch für Afghanistan nicht von einer derzeitigen landesweiten Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß Art. 15 c) QRL ausgegangen werden, da begrenzte Bandenkriege nicht darunter fallen und bürgerkriegsähnliche bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Taliban und anderen extremistischen Gruppierungen allenfalls im Süden und Süd-Osten des Landes, nicht aber in anderen Provinzen und vor allem nicht in der Hauptstadt Kabul stattfinden...."

Dem hat sich das Sächsische OVG mit seinem Beschluss vom 25. September 2007 - A 1 B 161/07 - (juris Rdnr. 11) angeschlossen.

An dieser Rechtsauffassung hält der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan auch nach der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie mit der Einschränkung fest, dass nunmehr wegen in § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG n.F. auch der subsidiäre Schutz in erster Linie durch Anordnungen der obersten Landesbehörden nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG n.F. zu gewährleisten und nur im Falle einer von diesen Behörden "sehenden Auges" ignorierten Extremgefahr durch Einzelentscheidungen des Bundesamts oder der Verwaltungsgerichte zu ersetzen ist. In dieser dem Wortlaut des § 60 Abs. 7 S. 2 und 3 AufenthG n.F. entsprechenden Auslegung sieht sich der Senat durch die Gesetzgebungsmotive bestätigt.