VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 18.04.2007 - 2 E 3621/06.A - asyl.net: M10549
https://www.asyl.net/rsdb/M10549
Leitsatz:

Alleinstehende Rückkehrer sind in Afghanistan einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Wohnraum, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, RANA-Programm, IOM, Kabul, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage, Homosexuelle
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3
Auszüge:

Alleinstehende Rückkehrer sind in Afghanistan einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG liegen vor.

Ausgehend von den dem Gericht zur Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan vorliegenden Auskünften ist überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland einer solchen erheblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein wird. Insbesondere ist zu befürchten, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation nicht die Möglichkeit haben wird, in menschenwürdiger Weise sein Existenzminimum zu sichern.

Der Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG steht die derzeitige Erlasslage für nicht bleibeberechtigte afghanische Staatsangehörige nicht entgegen, da diese einen anderweitigen, gleichwertigen Abschiebungsschutz nicht vermittelt. Denn der zur Umsetzung der Beschlussfassung der ständigen Konferenz der Innenminister und Senatoren der Länder ergangene Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27. Juli 2005 (StAnZ 34/2005, Seite 3258, 3260) stellt eine Abfolge von Abschiebungen bestimmter Personengruppen vor und kann nicht mehr als die Erwartung tragen, noch eine gewisse Zeit in Deutschland verbleiben zu können.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Versorgungslage im gesamten Land als katastrophal anzusehen.

Selbst das Auswärtige Amt (AA) hat die Wirtschaftslage Afghanistans als einem der ärmsten Länder der Welt als desolat bezeichnet.

Der Sachverständige Dr. Danesch hat in seinen Gutachten vom 23.01.2006 (an VG Hamburg) und 13.01.2006 (an VG Wiesbaden) ausgeführt, dass die Wirtschaftslage in Afghanistan desolat sei, es kaum bezahlbare Wohnungen gebe, die Arbeitslosenquote ca. 80 % betrage und die Kriminalität enorm angewachsen sei. Staatliche und soziale Sicherungssysteme seien nicht bekannt, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gibt es nicht. Nach Ansicht von Dr. Danesch stoßen insbesondere Rückkehrer auf große Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlen. Rückkehrern sei es praktisch unmöglich, sich eine Existenz aufzubauen. Innerhalb kürzester Zeit hätten 1,5 Millionen Rückkehrer Kabul überschwemmt, wo sich die Hilfsorganisationen nicht in der Lage gesehen hätten, für eine derartige Masse Menschen Nahrungsmittel und Unterkünfte zu stellen und ihnen eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Internationale Organisationen hätten bei der Auswahl der Hilfsbedürftigen strenge Maßstäbe angelegt und Rückkehrern aus Europa unterstellt, sie seien finanziell besser gestellt. Das Heer der Tagelöhner und Arbeitslosen lasse die Aussicht auf Arbeit gering erscheinen. In den Zeltlagern seien die hygienischen Verhältnisse ebenfalls katastrophal. Von der Bevölkerungszahl in Kabul seien etwa die Hälfte mittellose Flüchtlinge, weshalb die Hilfsangebote nur einen kleinen Teil erreichten. Lebensmittelpreise und Mieten seien in astronomische Höhen gestiegen, die Versorgung sei in einem lebensbedrohlichen Maß ungesichert.

Die Aussagen des sachverständigen Zeugen Georg David vor dem OVG Berlin-Brandenburg vom 27.03.2006, wonach es Übergangshilfen bis hin zu Wohnunterkünften und Startgeldern für Rückkehrer in Kabul gebe, halten den detaillierten und nachvollziehbaren Gegenargumenten des Dr. Danesch nicht Stand. Sowohl in seinen Aussagen vor dem OVG Berlin-Brandenburg am 05.05.2006 als auch in seinem neuesten und ausführlichen Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel vom 04.12.2006 legt Dr. Danesch dar, dass die Aussagen des Herrn David ein (jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt) gänzlich unzutreffendes Bild zeichnen und dass es in Wahrheit für freiwillig nach Afghanistan zurückkehrende (ehemalige) Flüchtlinge praktisch keine realistische, langfristige Existenz- und Überlebensmöglichkeit gibt, es sei denn, sie können auf familiären Rückhalt zurückgreifen. Gleiches folgt aus den Ausführungen von amnesty international in seinem asylinfo 1-2/2007 (Keine extreme Gefahrenlage in Afghanistan? Erkenntnisse zur Versorgungs- und Sicherheitslage und zum Rana-Programm), welche sich mit der Umsetzung des IOM-Programms in der Praxis auseinandersetzen.

Auch nach dem Bericht "Zur Lage in Afghanistan" vom Informationsverbund Asyl vom 01.10.2006 stellt sich die Situation in Afghanistan katastrophal dar.

Darüber hinaus hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan über die letzten Jahre immer weiter verschlechtert und wird von den auskunftgebenden Stellen nunmehr bezüglich sämtlicher Gebiete Afghanistans außerhalb von Kabul übereinstimmend als prekär bezeichnet.

Auch im Raum Kabul hat sich die Situation weiter verschärft. 2006 fanden mehrere Bomben-, Raketen- und Selbstmordanschläge in Kabul statt, bei denen Sicherheitskräfte und Zivilpersonen starben. Das Auswärtige Amt weist aktuell darauf hin, dass es selbst in Kabul zu Attentaten kommen kann und sich vor allem nachts Schießereien und Gewaltvergehen ereignen (Reisewarnung: Afghanistan, Stand: 08.12.06).

Das Gericht folgert hieraus, dass die Sicherheitslage in Afghanistan außerhalb des Raumes Kabul derart instabil und problematisch ist, dass afghanischen Staatsangehörigen eine Rückkehr in soweit nicht zuzumuten ist. Für den Raum Kabul geht das Gericht jedoch nicht davon aus, dass jeder Rückkehrer aufgrund der schlechten Sicherheitslage "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wird".

Zusammenfassend steht unter Berücksichtigung der katastrophalen Versorgungslage zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten in Kabul zurückgreifen können, bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sind. Sie haben keinerlei Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Eine Betätigung als Tagelöhner ist angesichts des Heeres von freiwilligen Rückkehrern, die sich um solche Einkommensquellen bemühen, so gut wie ausgeschlossen. Die abgeschobenen Rückkehrer unterfallen auch nicht dem Mandat des UNHCR, der mit seinem Programm nur freiwillige Rückkehrer unterstützt, und können deshalb nicht mit ausreichender humanitärer Hilfe rechnen (vgl. Informationsverbund Asyl, "Zur Lage in Afghanistan" vom 01.10.2006).

Alledem zufolge gebietet die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG die Feststellung, dass von der Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger, die bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht auf familiäre Unterstützung in Kabul zurückgreifen können, abzusehen ist (ebenso: VG Meiningen vom 16.11.2006, 8 K 20639/03 Me; VG Köln vom 12.04.2006, 14 K 700/04.A; VG Sigmaringen vom 16.03.2006, A 2 K 10668/05; VG Karlsruhe vom 09.11.2005, A 10 K 12302/03, AuAS 2006, 47).

Im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens führt dies zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Wiederaufgreifensgründe i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sind für den Kläger gegeben. Die dem Verwaltungsakt, dem früheren Asylverfahren, zugrundeliegende Sachlage hat sich nachträglich zugunsten des Klägers geändert. Auf die allgemein schlechte Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan hat sich der Kläger in seinem Folgeverfahren ohne Erfolg berufen, wie aus den Gründen des Urteils vom 29.03.2006 folgt. Jedoch hat sich die Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan im letzten Jahr derart verschlechtert, dass eine gegenüber dem Folgeverfahren zugunsten des Klägers geänderte Sachlage vorliegt. Insbesondere aus den aktuellen Quellen (vgl. nur Dr. Danesch an Hess. VGH v. 04.12.2006; amnesty international, Asylinfo 1-2/2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan, Update v. 11.12.2006) zieht das Gericht nunmehr den Schluss, dass afghanischen Staatsangehörigen, die bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht auf familiäre Unterstützung in Kabul zugreifen können, eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG droht.

Eine zu Gunsten des Klägers geänderte Sachlage ist auch dadurch eingetreten, dass seine Homosexualität in Afghanistan bekannt geworden ist.

Der Kläger war außer Stande, die Gründe für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen, so dass auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG vorliegen. Hinsichtlich seines "Outings" ist für das Gericht nachvollziehbar, dass der Kläger erst nach Eingehen einer festen Beziehung, mithin nach Abschluss seines letzten gerichtlichen Verfahrens, dazu in der Lage war, sich offen zu seiner Homosexualität zu bekennen. Hieraus folgt, dass insoweit auch die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt ist.