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EuGH zur Einstufung von Asylanträgen als Folgeantrag nach Asylverfahren in einem anderen europäischen Staat

Der EuGH hat am 19.12.2024 darüber entschieden, unter welchen Umständen ein Asylantrag als Folgeantrag zu werten ist, wenn in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits ein Asylantrag gestellt wurde. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass eine rechtskräftige Entscheidung über den vorhergehenden Antrag Voraussetzung für die Annahme eines Folgeantrags ist. Solange die Wiederaufnahme des Verfahrens im anderen Mitgliedstaat möglich sei, dürfe der erneute Asylantrag daher nicht als Folge- oder Zweitantrag eingestuft werden.

Die Vorlagefragen des VG Minden

Die Entscheidung des EuGH erging zu Vorlagefragen aus zwei Verfahren, die zur Entscheidung verbunden wurden (EuGH: Urteil vom 19.12.2024 – C-123/23, C-202/23 [Khan Yunis und Babdaa], N.A.K. u.a. gg. Deutschland – asyl.net: M32939, Link s.u.). Beide Vorabentscheidungsersuchen hatte das Verwaltungsgericht Minden am 28.10.2022 an den EuGH übermittelt (VG Minden, Beschluss vom 28.10.2022 – 1 K 1829/21.A – asyl.net: M31401). Darin hatte das VG die Frage vorgelegt, ob der Begriff des Folgeantrages mitgliedstaatübergreifend angewendet werden könne.

Hintergrund der Frage ist, dass im deutschen Asylrecht zwischen einem Folgeantrag (§ 71 AsylG) und einem Zweitantrag (§ 71a AsylG) unterschieden wird. Ein Folgeantrag liegt demnach vor, wenn in Deutschland bereits über einen Asylantrag rechtskräftig entschieden wurde. Von einem Zweitantrag ist demgegenüber dann die Rede, wenn ein in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits ein Asylverfahren durchgeführt wurde und zu einer rechtskräftigen Ablehnung geführt hat. In dem vorgelegten Verfahren an den EuGH geht es daher nun um die Frage, ob die Regelungen aus Art. 33 Abs. 2 Bst. d) und Art. 40 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) auf den Zweitantrag angewendet werden können und der Antrag als unzulässig abgelehnt werden kann. Den unionsrechtlichen Regelungen ist der Begriff des Zweitantrags unbekannt, wird ein weiterer Asylantrag gestellt, dem ein rechtskräftig abgelehntes Verfahren vorangeht, wird nach der Sprachregelung der EU-Richtlinien von einem Folgeantrag ausgegangen.

In seinem Vorlagebeschluss hatte das VG Minden darauf verwiesen, dass es Zweifel an der Vereinbarkeit der rechtlichen Konstruktion des Folge- oder Zweitantrags mit Unionsrecht gebe. Diese Zweifel beruhten unter anderem auf einer Einschätzung der Europäischen Kommission, die die Ansicht vertreten hatte, dass das Unionsrecht einer mitgliedstaatübergreifenden Anwendung des Folgeantragskonzepts entgegenstehe. So sei es im gegenwärtigen Asylrecht der Union grundsätzlich nicht vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten negative Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten anerkennen müssten. Wenn dies von der EU-Gesetzgebung gewünscht werden sollte, müsste sie dies ausdrücklich und eindeutig beschließen (vgl. VG Minden, Beschluss vom 28.10.2022; a.a.O., Rn. 50).

In den vom Verwaltungsgericht Minden vorgelegten Verfahren geht es zum einen um die Konstellation der rechtskräftigen Ablehnung eines unbegründeten Asylantrages durch die belgische Asylbehörde (C-123/23) und im zweiten Fall um die Einstellung eines Asylverfahrens gemäß Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32/EU durch die polnischen Behörden, weil der Antragsteller das Land zwischenzeitlich verlassen und das Verfahren nicht weiter betrieben hatte (C- 202/23).

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH urteilt nun, dass sich sowohl nach dem Wortlaut und dem Kontext als auch aus dem Willen der Gesetzgebung ergebe, dass es sich bei einem Asylantrag um einen Folgeantrag handelt, wenn ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren vorausgegangen ist. Dies gelte auch dann, wenn das Erstverfahren in einem anderen Mitgliedstaat entschieden wurde. Der Folge- oder Zweitantrag könne dann als „unzulässig“ abgelehnt werden.

Hierfür verweist der EuGH auf die Definition der Asylverfahrensrichtlinie: Demnach handelt es sich um einen Folgeantrag, wenn ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird und keine neuen Gründe oder Erkenntnisse zur Eröffnung eines neuen Verfahrens führen. Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU könne nicht entnommen werden, dass ein Folgeantrag nur dann als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn das Erstverfahren in demselben Mitgliedstaat durchgeführt wurde. Auch der Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 RL 2013/32/EU („Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt,“ […]) stehe dieser Auslegung nicht entgegen.

Diese Auslegung wirke einer Sekundärmigration entgegen, denn eine andere Rechtsauslegung könne den Anreiz setzen, in einem weiteren Mitgliedstaat einen Asylantrag zu stellen, in der Hoffnung auf eine positive Entscheidung.

Im Ergebnis bestätigt der EuGH damit, dass die im deutschen Recht in § 71a AsylG enthaltene Regelung über den Zweitantrag grundsätzlich mit Unionsrecht vereinbar ist – allerdings mit einer bedeutenden Einschränkung, die diejenigen Fälle betrifft, in denen ein Asylantrag im anderen Mitgliedstaat wegen „stillschweigender Rücknahme“ eingestellt wurde und eine Wiederaufnahme des Verfahrens noch möglich ist.

Zwar seien die Regelungen über den Folgeantrag mit der Rechtsfolge einer Ablehnung als „unzulässig“ grundsätzlich auch dann anwendbar, wenn der erste Mitgliedstaat eine Entscheidung gemäß Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32/EU getroffen habe, der Asylantrag also stillschweigend zurückgenommen oder nicht weiter betrieben wurde. Voraussetzung sei aber auch in dieser Konstellation, dass eine bestandskräftige Entscheidung des ersten Mitgliedstaates vorliege. Im Falle einer Ablehnung nach Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32/EU trete die Rechtskraft aber erst nach Ablauf der Frist für einen Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens (mindestens neun Monate, Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32/EU) ein. Solange die Möglichkeit der Wiedereröffnung bestehe mit der Rechtsfolge, dass das Verfahren als Erstverfahren weitergeführt werden könne, liege keine bestandskräftige Entscheidung vor und die Regelungen über Folgeanträge seien nicht anwendbar.

Im vorliegenden Fall hatte der Kläger zunächst einen Asylantrag in Polen und anschließend im März 2020 einen Antrag in Deutschland gestellt. Die Entscheidung der polnischen Behörden, das Asylverfahren einzustellen, wurde aber erst im April 2020 erlassen – womit also eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Polen noch möglich war und entsprechend der Antrag in Polen nicht rechtskräftig abgelehnt worden war. In einer solchen Konstellation dürfen die deutschen Behörden laut dem EuGH Asylanträge nicht als Folge- oder Zweitanträge behandeln.