VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 28.10.2022 - 1 K 1829/21.A - asyl.net: M31401
https://www.asyl.net/rsdb/m31401
Leitsatz:

Vorlagebeschluss zur Vereinbarkeit der Regelung zum Zweitantrag mit Unionsrecht:

Nach den Ausführungen der Europäischen Kommission in einem Verfahren vor dem EuGH (C-8/20), wonach Art. 33 Abs. 2 Bst. d Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) eine Unzulässigkeit für erneute Asylanträge nur dann vorsieht, wenn der vorherige Asylantrag im selben Mitgliedstaat abgelehnt wurde, und die Regelung zum Zweitantrag im deutschen Recht unionsrechtswidrig sei, ist klärungsbedürftig, ob § 71a AsylG unionsrechtskonform ist. Deshalb ist das Verfahren auszusetzen und die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Zulässigkeit, Unzulässigkeit, Asylverfahrensrichtlinie, Unionsrecht, Asylfolgeantrag, Vorabentscheidungsverfahren,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d, RL 2013/32/EU Art. 2 Bst. q
Auszüge:

[...]

10 I. Die nationale Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

11 1. Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, einen weiteren Asylantrag, spricht das nationale Recht von einem Zweitantrag (§ 71a Abs. 1 AsylG). [...]

12 Der Unterschied zwischen einem Folge- (§ 71 Abs. 1 AsylG) und einem Zweitantrag (§ 71a Abs. 1 AsylG) besteht darin, dass das erste Asylverfahren bei einem Folgeantrag in Deutschland und bei einem Zweitantrag in einem sicheren Drittstaat durchgeführt wurde (vgl. VG Schleswig, Vorlagebeschluss vom 16. August 2021 - 9 A 178/21 -, ECLI:DE:VGSH:2021:0816.9A178.21.00, Rn. 20). [...]

14,15 Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs steht fest, dass § 71a Abs. 1 AsylG keine Anwendung findet, wenn es sich bei dem Drittstaat nicht um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt (vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, ECLI:EU:C: 2021:404, Rn. 31 ff. (von Norwegen abgelehnter Asylantrag)) oder es sich bei diesem zwar um einen Mitgliedstaat handelt, dieser aber nicht an die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU) gebunden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 - C-497/21 -, ECLI: EU:C:2022:721, Rn. 36 ff. (von Dänemark abgelehnter Asylantrag)).

16 Dagegen hat der Gerichtshof die Frage, ob der Begriff "Folgeantrag" in Art. 2 lit. q) und Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU mitgliedstaatsübergreifend angewendet werden kann, bisher ausdrücklich offengelassen (vgl. EuGH, Urteile vom 20. Mai 2021 - C 8/20 -, ECLI:EU:C: 2021:404, Rn. 30 und 40, sowie vom 22. September 2022- C-497/21 -, ECLI:EU:C:2022:721, Rn. 36 und 46). 17 Diese Frage stellt sich in zwei unterschiedlichen Fallkonstellationen: Bei der ersten Fallkonstellation hat die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats den dort gestellten Asylantrag in der Sache geprüft und bestandskräftig abgelehnt. Diese Konstellation ist Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Bei der zweiten Fallkonstellation hat die zuständige Behörde des anderen Mitgliedstaats entschieden, das dort geführte Asylverfahren einzustellen, weil der Antragsteller dieses Verfahren nicht weiter betrieben hat. Diese Fallkonstellation ist Gegenstand eines weiteren Verfahrens, das das vorlegende Gericht dem Gerichtshof noch zur Vorabentscheidung vorlegen wird. [...]

41 II. Die aus dem Tenor ersichtliche Frage ist klärungsbedürftig und hinsichtlich der Klägerin zu 1. entscheidungserheblich. Bezüglich der Kläger zu 2. und 3. hat das Bundesamt bisher nicht ermittelt, ob sie in Belgien ebenfalls Asylanträge gestellt haben und ob diese ggf. ebenfalls abgelehnt wurden. Dies wird im nationalen Verfahren aufzuklären sein.

42 Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand liegen die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG für die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin zu 1. als unzulässig vor (1.). Die aufgeworfene Frage kann auch nicht als acte claire beantwortet werden (2.). [...]

49 2. Die aufgeworfene Frage kann jedenfalls nach Bekanntwerden der Ausführungen der Kommission im Verfahren C-8/20 nicht (mehr) als acte claire beantwortet werden [...].

50 In dem vorstehend bezeichneten Verfahren hat die Kommission die Ansicht vertreten, dass das Unionsrecht einer mitgliedstaatsübergreifenden Anwendung des Folgeantragskonzepts entgegenstehe. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass die mitgliedstaatsübergreifende Anwendung dieses Konzepts ein gewisses Maß an gegenseitiger Anerkennung negativer Asylentscheidungen bedeute und eine solche im gegenwärtigen Asylrecht der Union grundsätzlich nicht vorgesehen sei. Es spreche viel für die Annahme, dass ein solcher Schritt in Richtung gegenseitiger Anerkennung vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich und in hinreichender Klarheit beschlossen werden müsse, zumal die Folgen der Einstufung eines Antrags als Folgeantrag für Asylantragsteller beträchtlich seien. [...]