Die Frage, ob die Dublin-Verordnung überhaupt individualschützende Wirkung entfaltet, war zuvor umstritten. Eine bisher vertretene Auffassung lautete, dass die Verordnung lediglich organisatorische Vorschriften enthalte, die allein die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedstaaten regelten. Fehler bei der Zuständigkeitsbestimmung seien nur von den jeweiligen Staaten untereinander zu klären. Jedenfalls bei Aufnahmebereitschaft des ersuchten Mitgliedsstaates könnten Schutzsuchende keine subjektiven Rechte aus der Verordnung gegen die Überstellung geltend machen.
Über diese Frage hatte der Gerichtshof in den Vorabentscheidungsverfahren Ghezelbash gegen die Niederlande und Karim gegen Schweden nun erstmals seit Inkrafttreten der 2013 neu gefassten Dublin-III-Verordnung zu entscheiden. Im ersten Fall war zu klären, ob Herr Ghezelbash sich auf die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien durch niederländische Behörden berufen konnte, nachdem Frankreich dem Aufnahmegesuch bereits stattgegeben hatte. Richtigerweise wären die Niederlande für sein Asylgesuch zuständig gewesen, da er sich zwar zunächst mit Visum in Frankreich aufhielt, vor Einreise in die Niederlande aber nochmals in seinem Heimatland Iran war. In einem ähnlich gelagerten Fall wandte sich Herr Karim gegen seine Überstellung von Schweden nach Slowenien. Auch hier hatten die slowenischen Behörden der Wiederaufnahme bereits zugestimmt. Da er sich vor Einreise und Asylantragstellung in Schweden mehr als drei Monate außerhalb des Gebiets der Dublin-Mitgliedstaaten aufgehalten hatte, war die die slowenische Zuständigkeit aber bereits erloschen.
In der Rechtssache Ghezelbash urteilte der EuGH, dass Asylsuchende im Rahmen eines in Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien durch Behörden geltend machen können. Die Betroffenen müssten sich wirksam auf Verfahrensgarantien berufen können. In der Rechtssache Karim stellte der Gerichtshof fest, dass dies auch für behördliche Verstöße gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung gilt. Nach dieser Norm erlischt die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates und ist ein neues Dublin-Verfahren durchzuführen, wenn Betroffene das Gebiet der Dublin-Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen haben.
Die beiden Urteile stellen eine vollständige Abkehr von der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Abdullahi gegen Österreich (Urteil vom 10.12.2013, C-394/12) dar, die er noch unter der damals geltenden Dublin-II-Verordnung getroffen hatte. Hier hatte der Gerichtshof entschieden, dass Rechtsmittel der Betroffenen nur dann zulässig seien, wenn sie „systemische Mängel“ im Asylsystem des Mitgliedstaates, in den ihre Überstellung erfolgen sollte, geltend machten und ihnen deshalb dort Menschenrechtsverletzungen drohten. Die Änderung seiner Rechtsprechung begründete der EuGH damit, dass der EU-Gesetzgeber im Zuge der Neufassung der Verordnung im Jahr 2013 erkennbar den Schutz der betroffenen Asylsuchenden verbessern wollte.
Den Text des Urteils und eine Anmerkung hierzu von RA Heiko Habbe findet sich in der Ausgabe 7/2016 des Asylmagazins.