Aktualisiert am 30.5.2022
Die gesetzliche Neuregelung soll erreichen, dass aus der Ukraine geflüchtete Personen, die den vorübergehenden Schutzstatus nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes beantragt oder erhalten haben, ab dem 1. Juni 2022 nicht mehr Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen müssen. Stattdessen wechseln sie in den Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuches II (Grundsicherung für Arbeitsuchende, "Hartz IV") bzw. des Sozialgesetzbuches XII (Sozialhilfe). Damit haben sie Anspruch auf die regulären Sozialleistungen anstelle der reduzierten Leistungen, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt werden. Der "Rechtskreiswechsel" zwischen den beiden Leistungssystemen hat außerdem Auswirkungen auf andere Unterstützungsleistungen wie zum Beispiel das Kindergeld, den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung oder das BAföG.
Die umfangreichen Neuregelungen, die neben den Sozialgesetzbüchern verschiedene weitere Gesetze betreffen, wurden kurzfristig in ein anderes Gesetz eingefügt, um das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen. Sie finden sich daher nun im "Einmalzahlungsgesetz" ("Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen […]"), in dem insbesondere die sogenannten Corona-Zuschläge für Personen, die Sozialleistungen beziehen, enthalten sind (Bundestags-Drucksache 20/1411, die Änderungen, die Geflüchtete aus der Ukraine betreffen, wurden durch den Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales hinzugefügt, siehe Bundestags-Drucksache 20/1768 sowie Bundesrats-Drucksache 204/22). Nicht zuletzt aufgrund dieses Verfahrens sind die gesetzlichen Neuregelungen sehr unübersichtlich.
Das Gesetz ist am 27. Mai 2022 im Bundesgesetzblatt erschienen (BGBl 2022 Teil I Nr. 17, S. 760), sodass die Neuregelungen zum 1. Juni 2022 in Kraft treten. Die entscheidenden Änderungen für Geflüchtete aus der Ukraine bestehen in diesen Regelungen:
- Neuer § 74 SGB II: Regelungen des Anspruchs auf SGB II-Leistungen für Personen mit Anspruch auf vorübergehenden Schutz, die sogenannte Fiktionsbescheinigungen erhalten haben;
- neuer § 146 SGB XII: Sozialhilfe für Personen mit einem Aufenthaltstitel nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes oder einer Fiktionsbescheinigung;
- Neuregelungen im Asylbewerberleistungsgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 8, § 1 Abs. 3b sowie § 18 AsylbLG): Diese Regelungen sollen bewirken, dass Personen mit Anspruch auf den vorübergehenden Schutz nur noch ausnahmsweise Leistungen nach AsylbLG beziehen müssen.
Die Berechtigung für den Leistungsbezug nach SGB II bzw. SGB XII entsteht allerdings nicht automatisch bei allen Geflüchteten aus der Ukraine, sondern ist von verschiedenen Voraussetzungen abhängig. Diese Voraussetzungen laufen darauf hinaus, dass zumindest für eine Übergangszeit verschiedene Gruppen von Leistungsberechtigten entstehen:
- Personen, denen die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes bereits erteilt wurde, haben ab dem Folgemonat Anspruch auf Leistungen des SGB II bzw. SGB XII (wurde oder wird diese Aufenthaltserlaubnis also bis Ende Mai erteilt, gilt der Anspruch ab dem 1. Juni 2022). Falls die erkennungsdienstliche Behandlung bei diesem Personenkreis noch nicht erfolgt ist, ist sie bis zum zum 31. Oktober 2022 nachzuholen.
- Personen, die bereits eine sogenannte Fiktionsbescheinigung erhalten haben, weil sie den Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG beantragt haben, haben ebenfalls ab dem 1. Juni 2022 Anspruch auf Leistungen des SGB II bzw. SGB XII, allerdings nicht in allen Fällen: Als zusätzliche Voraussetzungen verlangt das Gesetz, dass die betroffenen Personen bereits erkennungsdienstlich behandelt worden sind und/oder dass ihre Daten im Ausländerzentralregister (AZR) gespeichert sind. In der Konstellation, dass die Speicherung im AZR bereits erfolgt ist, die erkennungsdienstliche Behandlung aber noch nicht, ist letztere bis zum 31. Oktober 2022 nachzuholen (neuer § 74 Abs. 1–3 SGB II sowie neuer § 146 Abs. 1–3 SGB XII).
- Strittig ist offenbar noch, wie mit Fiktionsbescheinigungen umzugehen ist, die nicht auf den dafür vorgesehenen amtlichen Vordrucken ausgestellt wurden: Der Bundesrat hat hierzu in seinem Beschluss vom 20. Mai 2022 (BR-Drs. 204/22) gefordert, dass der Wechsel in den Leistungsbezug des SGB II bzw. SGB XII "auch mit anderen Bescheinigungen über die Antragstellung als der Fiktionsbescheinigung auf amtlichen Vordruck" zugelassen werden müsse. Hintergrund dieser Forderung ist, dass offenbar nicht ausreichend Vordrucke zur Verfügung standen, sodass die Behörden Fiktionsbescheinigungen häufig in anderer Weise ausgestellt haben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) verweist laut migazin.de in diesem Zusammenhang auf eine nicht näher bezeichnete Übergangsregelung, wonach Fiktionsbescheinigungen, die vor dem 31. Mai 2022 ausgestellt wurden und die nicht dem vorgeschriebenen Format entsprächen, bis Ende Oktober 2022 anerkannt würden. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass auf diesen Bescheinigungen dieselben Informationen erfasst seien wie auf dem amtlichen Vordruck (migazin.de vom 22.5.2022). Auch laut den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit vom 23. Mai 2022 können die Jobcenter Fiktionsbescheinigungen akzeptieren, die nicht auf dem amtlichen Formblatt ausgestellt wurden. Solche Ersatzbescheinigungen müssten aber „grundsätzlich die Informationen des gesetzlich vorgesehenen Vordrucks der Fiktionsbescheinigung enthalten.“ Zudem müssten die Jobcenter bei Vorlage der Ersatzbescheinigungen einen Abgleich mit den AZR-Daten vornehmen.
- Personen, die am 1. Juni 2022 einen Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG haben und diese auch beantragt haben, aber die erforderlichen Voraussetzungen noch nicht vollständig erfüllen – weil sie das entsprechende Dokument noch nicht haben oder weil die oben genannten zusätzlichen Anforderungen nicht vorliegen – beziehen vorerst weiterhin Leistungen nach AsylbLG (neuer § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG). Sobald sie die Voraussetzungen erfüllen, soll der "Rechtskreiswechsel" bei dieser Gruppe dann rückwirkend zum 1. Juni 2022 vollzogen werden. Das bedeutet, dass der Differenzbetrag zwischen den Leistungen nach SGB II/SGB XII sowie den AsylbLG-Leistungen später für die Monate ab Juni 2022 nachgezahlt werden soll (§ 18 AsylbLG, siehe auch Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 20/1768, S. 28).
- Personen, die erst nach dem 1. Juni 2022 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG beantragen und noch keine Leistungen bezogen haben (weil der entsprechende Antrag bei den Behörden noch nicht vorlag) sollen demgegegenüber offenbar erst mit Verzögerung Leistungen des SGB II bzw. SGB XII erhalten. Sie bleiben bis zum Ende des Monats, in dem sie die Fiktionsbescheinigung oder die Aufenthaltserlaubnis erhalten, noch im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes (neuer § 1 Abs. 3a AsylbLG) und sind in diesem Zeitraum von den SGB II bzw. SGB XII-Leistungen ausgeschlossen. Sie wechseln also erst im Folgemonat in den Bezug von Leistungen des SGB II bzw. SGB XII. Da für diese Personengruppe - soweit erkennbar - keine Übergangsregelung gilt, kommt hier offenbar auch keine rückwirkende Auszahlung von Leistungen in Betracht.
Das Netzwerk IQ Niedersachsen hat eine tabellarische Übersicht zu den "sozialrechtlichen Rahmenbedingungen mit Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG bzw. nach Antrag auf vorübergehenden Schutz" veröffentlicht (Autor: Claudius Voigt, GGUA Flüchtlingshilfe). Behandelt wird hier neben den o.g. Fallgruppen auch die Konstellation, dass der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG abgelehnt wird. Daneben enthält die Arbeitshilfe umfangreiche Informationen zu Folgerechten und Leistungsansprüchen, die mit dem Bezug von SGB-Leistungen sowie gegebenenfalls in der Übergangsphase ab Juni 2022 geltend gemacht werden können. Dies betrifft etwa die Finanzierung der Gesundheitsversorgung (einschließlich des Zugangs zur gesetzlichen Krankenversicherung), Maßnahmen zur Arbeits- und Ausbildungsförderung, Ansprüche auf Kinder- und Elterngeld sowie auf Sprachkurse.