EuGH: Recht auf Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass unbegleitete Minderjährige, die während des Asylverfahrens volljährig werden, ihr Recht auf Familiennachzug behalten. Das Urteil, welches in einem niederländischen Fall erging, stellt auch die bisherige deutsche Praxis und Rechtsprechung infrage.

In dem am 12. April 2018 ergangenen Urteil in der Rechtssache A. und S. gegen die Niederlande (C-550/16) hat der EuGH das Recht unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, ihre Familienangehörigen nachzuholen, gestärkt.

Der Fall betrifft eine Familie aus Eritrea. Die damals 17-jährige Tochter der Beschwerdeführenden (deren Namen vom Gerichtshof mit „A. und S.“ abgekürzt wurden) war unbegleitet in die Niederlande eingereist und hatte dort im Februar 2014 einen Asylantrag gestellt. Im Juni 2014 wurde sie volljährig. Im Oktober 2014 erhielt sie von den niederländischen Behörden einen Aufenthaltstitel für Asylberechtigte, der auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zurückwirkte und auf fünf Jahre befristet wurde.

Wenige Wochen nach der Zuerkennung des Schutzstatus beantragte die Tochter, dass die niederländischen Behörden ihren Eltern sowie ihren drei minderjährigen Brüdern Aufenthaltstitel zum Zweck der Familienzusammenführung erteilen sollten. Der Antrag wurde mit dem Argument abgelehnt, dass die Tochter der Familie nicht mehr minderjährig war, als sie den Antrag auf Familienzusammenführung stellte. Daher hätten Eltern und Geschwister keinen Anspruch auf den Familiennachzug, wie er für unbegleitete Minderjährige vorgesehen sei. Das daraufhin angerufene Gericht (die Rechtbank Den Haag) setzte das Verfahren aus, weil es grundsätzlichen Klärungsbedarf sah. Es legte dem EuGH in einem sogenannten Vorabentscheidungsverfahren sinngemäß die Frage vor, ob es für das Kriterium der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung oder auf den Zeitpunkt des Antrags auf Familienzusammenführung ankomme.

Vor dem Gerichtshof machte die niederländische Regierung geltend, dass die sogenannte Familienzusammenführungsrichtlinie der EU (Richtlinie 2003/86/EG – FamZ-RL) es den Mitgliedstaaten überlasse, den maßgeblichen Zeitpunkt für das Kriterium der Minderjährigkeit selbst festzulegen. Daneben äußerten sich auch die polnische Regierung und die Europäische Kommission in dem Verfahren, die die Richtlinie anders auslegten (die Kommission hielt den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung für maßgeblich, die polnische Regierung den Zeitpunkt der Entscheidung über einen solchen Antrag).

Der EuGH erteilte sowohl der niederländischen Praxis als auch den anderen vorgetragenen Rechtsauffassungen eine klare Absage. Er entschied, dass eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer (unbegleiteten) Einreise und Asylantragstellung unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und die später als Flüchtling anerkannt wird, als unbegleitete minderjährige Person im Sinne der Definition von Art. 2 Bst. f FamZ-RL anzusehen ist. Damit behalte sie ihr Recht auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Bst. a FamZ-RL.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Erfüllung des Kriteriums der Minderjährigkeit ist somit allein die Asylantragstellung. Allerdings muss laut EuGH der Antrag auf Familiennachzug innerhalb einer angemessenen Frist gestellt werden. Nach dem Gerichtshof heißt dies, dass dieser grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab Anerkennung der minderjährigen Person als Flüchtling gestellt werden müsse.

Zur Begründung verweist der Europäische Gerichtshof unter anderem darauf, dass die Gleichbehandlung aller Betroffenen nur gewährleistet sei, wenn der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die „in der Sphäre der Antragstellers“ liegen, nicht aber von Umständen, die nur die jeweils zuständige Behörde beeinflussen kann (insbesondere die Dauer des Asylverfahrens). Das Recht auf Familienzusammenführung dürfe daher nicht von dem Zeitpunkt abhängen, zu dem die zuständige nationale Behörde über die Anerkennung als Flüchtling förmlich entscheidet. Auch auf den Zeitpunkt der Beantragung der Familienzusammenführung könne es nicht ankommen, da diese erst nach Flüchtlingsanerkennung erfolgen kann.

Es spricht viel dafür, dass sich auch die deutsche Praxis und Rechtsprechung nach dieser Entscheidung ändern muss.

Das Auswärtige Amt hatte in einer Weisung noch vertreten: "Der Nachzugsanspruch von Eltern zu einem in Deutschland lebenden, minderjährigen, anerkannten Flüchtling (...) besteht nach ständiger Rechtsprechung nur vor Eintritt der Volljährigkeit des Kindes. Ein Visum kann daher nur erteilt werden, solange das Kind minderjährig ist."

Diese Auffassung stützte sich u.a. auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), welches etwa in einem Urteil vom 18. April 2013 (10 C 9.12, asyl.net: M20813, Asylmagazin 6/2013) vertreten hatte, dass Eltern einen Anspruch auf Nachzug zu in Deutschland lebenden Kindern (nach § 36 Abs. 1 AufenthG) nur bis zu dem Zeitpunkt hätten, zu dem das Kind volljährig wird. Anders als beim Kindernachzug nach § 32 AufenthG sei eine Antragstellung vor Erreichen der jeweiligen Höchstaltersgrenze nicht ausreichend, um den Anspruch zu erhalten. Das BVerwG verwies auf die Möglichkeit, den Visumsanspruch der Eltern gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG mit Hilfe einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit des Kindes durchzusetzen.

Die Entscheidung des EuGH lenkt die Diskussion nun in eine völlig andere Richtung: Nicht nur ist es für den Gerichtshof im Gegensatz zur Auffassung des BVerwG irrelevant, ob eine als unbegleitet und minderjährig eingereiste Person während des Familiennachzugsverfahrens volljährig wird. Darüber hinaus geht der EuGH sogar davon aus, dass es auch keine Rolle spielt, ob die betroffene Person zum Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung bereits volljährig war oder nicht. In Zukunft ist daher grundsätzlich von einem Anspruch auf Familiennachzug auszugehen, wenn

  1. eine unbegleitete minderjährige Person den Flüchtlingsstatus zugesprochen bekommt, wobei nur entscheidend ist, dass sie zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war;

  2. sie den Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus stellt.

Interessant bleibt zudem die Frage, ob und wie die Entscheidung des EuGH Auswirkungen auf sogenannte „Altfälle“ haben wird, also Fälle, in denen der Anspruch auf Familiennachzug in der Vergangenheit abgelehnt wurde oder in denen mit Blick auf die deutsche Behördenpraxis und Rechtsprechung erst gar kein Antrag auf Familiennachzug gestellt wurde. In einer der kommenden Ausgaben des Asylmagazins soll die Entscheidung des EuGH auch in Hinblick auf diese Fragen kommentiert werden.


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