Bereits im Jahr 2013 hatte der EuGH in der Rechtssache X,Y,Z gegen die Niederlande (M21260) festgestellt, dass bei der Prüfung von Asylanträgen von homosexuellen Personen nicht erwartet werden darf, dass sie ihre sexuelle Orientierung geheim halten oder Zurückhaltung bei ihrer Auslebung ausüben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (sog. Diskretionsgebot). Trotz dieser EuGH-Grundsatzentscheidung hatten Asylbehörden und Gerichte in Deutschland und Österreich in Verfahren von Schutzsuchenden, die Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung geltend machen, vielfach dennoch das „Diskretionsgebot“ angewendet. Dies erfolgte, indem bei der Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit prognostiziert wurde, wie sich die asylsuchende Person bei Rückkehr in das Herkunftsland möglicherweise verhalten würde und ob sie durch „diskretes“ Verhalten eine Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung vermeiden könnte (ausführlich hierzu Dörr/Träbert/Braun, Asylmagazin 7-8/2021, ab S. 262 mwN).
Korrektur der EuGH-Übersetzung
Laut dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) waren Fehler in der Übersetzung der EuGH-Entscheidung mitverantwortlich für die den EuGH-Vorgaben nicht entsprechende Entscheidungspraxis (LSVD Pressemitteilung vom 30.9.2021). Nach Hinweisen des LSVD und der österreichischen Beratungsstelle Queer Base an den EuGH wurde die deutsche Übersetzung der niederländischen Originalfassung der Entscheidung „X, Y, Z“ korrigiert.
Die Korrektur betrifft die Schlussfolgerungen des EuGH, die ursprünglich wie folgt übersetzt wurden: „Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“
Die nunmehr korrigierte Fassung lautet: „Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“
Die ursprüngliche Übersetzung hätte so verstanden werden können, dass nur die Erwartung von „Diskretion“ ausgeschlossen ist. Dass also Geheim- und Zurückhaltung von der betroffenen Person nicht verlangt oder gefordert werden kann (Frage der individuellen Zumutbarkeit, „von dem Asylbewerber“). Die Korrekturen machen deutlich, dass Geheim- oder Zurückhaltung bei der sexuellen Orientierung allgemein unzumutbar ist, egal, ob eine Person sich bisher „diskret“ verhalten oder offen ihre Sexualität ausgelebt hat. Erwägungen dazu, ob eine Person möglicherweise aufgrund ihres bisherigen zurückhaltenden Verhaltens auch künftig ihre sexuelle Orientierung nicht offenlegen oder ausleben wird, sind daher für die Asylentscheidung obsolet und unzulässig. Ausgangspunkt für die Prüfung der Verfolgungswahrscheinlichkeit muss dementsprechend die offen gelebte sexuelle Orientierung sein (Dörr/Träbert/Braun, Asylmagazin 7-8/2021, S. 262).
Urteil des VG Braunschweig
In einer ersten Entscheidung ist nun ein deutschsprachiges Gericht auf die Korrektur der EuGH-Entscheidung eingegangen. Das VG Braunschweig hatte über den Asylantrag eines bisexuellen Mannes aus dem Iran zu entscheiden (Urteil vom 09.08.2021 - 2 A 77/18 - asyl.net: M30055). Unter Bezug auf die Originalfassung des EuGH-Urteils und die Korrekturhinweise des LSVD stellt das VG fest, dass bei Prüfung eines Asylantrags die „Diskretion“ bei der sexuellen Orientierung weder unterstellt noch prognostisch vermutet werden darf und dass daraus auch keine Schlüsse gezogen werden dürfen.
Das VG weist jedoch darauf hin, dass in der Rechtsprechung regelmäßig solche Prognosen angestellt werden. Es werde von Betroffenen bei der Darlegung ihrer Fluchtgründe „mithin erwartet, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität ist“. Demgegenüber betont das VG Braunschweig, die sexuelle Orientierung sei zwingend ein bedeutsamer Bestandteil der menschlichen Identität, die auch heterosexuellen Personen nicht abgesprochen werden würde. Inwiefern die betroffene Person ihre sexuelle Orientierung bisher ausgelebt hat, sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland, sei daher nicht maßgeblich für die Annahme einer Verfolgungsgefahr.
Die sexuelle Orientierung sei ein „zwingend bedeutsamer Bestandteil“ der menschlichen Identität, weshalb bei einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis geschlossen werden darf. Dies gilt umso mehr, wenn Betroffene in einem gesellschaftlichen Umfeld aufwachsen, in dem Sexualität tabuisiert wird. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich je nach Lebensphase verändern.
Laut VG ist die Entscheidung, wie eine Person ihre sexuelle Orientierung ausleben möchte und ob sie sich offen zu ihr bekennen möchte oder nicht, eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen ist.
Darüber hinaus schützt laut VG Braunschweig das diskrete Ausleben der sexuellen Orientierung im Iran nicht sicher vor Verfolgung. Denn bereits das Aufkommen eines entsprechenden Verdachts könne zu Verfolgungshandlungen führen. Zudem sei die sexuelle Orientierung ein Merkmal, das Betroffene für das gesamte Leben prägt und begleitet, sodass es noch zu vielen Situationen kommen kann, in denen sie vom Umfeld bemerkt werden könnte.