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Chancen-Aufenthaltsrecht und Änderungen im Asylverfahren: die ersten Gesetze der Ampel-Koalition treten in Kraft

Die ersten beiden migrationsrechtlichen Gesetze der vor einem Jahr geschlossenen Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP treten zum Jahreswechsel 2022/2023 in Kraft. Diese enthalten zum einen das neu geschaffene „Chancen-Aufenthaltsrecht“ und Änderungen der integrationsbasierten Bleiberechtsregelungen, zum anderen vielfältige Änderungen im behördlichen und gerichtlichen Asylverfahren.

Im Koalitionsvertrag von November 2021 hatten sich die damals neuen Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf einen „Neuanfang“ in der Migrationspolitik geeinigt und einen „Paradigmenwechsel“ angekündigt. Nunmehr treten die ersten beiden von der sogenannten Ampel-Koalition initiierten Gesetze in Kraft:

  • Das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts wurde am 30.12.2022 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht (BGBl. I Nr. 57, S. 2847) und trat am 31.12.2022 in Kraft.
  • Das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren wurde am 28.12.2022 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht (BGBl. I Nr. 56, S. 2817) und trat am 1.1.2023 in Kraft.

Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts

Mit dem Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts wird im Wesentlichen eine neue Aufenthaltserlaubnis für langzeitgeduldete Personen eingeführt. Sie kann Personen erteilt werden, die sich zum Stichtag des 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren in Deutschland aufhalten. Der Aufenthaltstitel wird für die Dauer von 18 Monaten erteilt und soll den Betroffenen die Möglichkeit geben, bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, die für einen Titel nach den sogenannten Bleiberechtsregelungen der §§ 25a und 25b AufenthG erforderlich sind. Dazu gehören insbesondere die Lebensunterhaltssicherung, die Identitätsklärung und Passpflicht sowie Deutschsprachkenntnisse. Von diesen Erfordernissen, die sonst regelmäßig als Voraussetzung für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen verlangt werden, wird für die Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts abgesehen, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, die fehlenden Anforderungen nachzuholen.

Laut Gesetzesbegründung wird damit bezweckt, Menschen, die sich langjährig in Deutschland aufhalten, eine aufenthaltsrechtliche Perspektive zu bieten und sogenannten Kettenduldungen entgegenzuwirken. Von Fachverbänden wurde die Regelung grundsätzlich begrüßt. Zugleich wiesen sie aber darauf hin, dass das Ziel der Vermeidung von „Kettenduldungen“ nicht dauerhaft erreicht werde, da die Regelung aufgrund der Bindung an einen Stichtag nur einmalig zur Geltung komme. Die rechtliche Lage bleibt somit für alle Personen, die nicht zum 31. Oktober 2022 die notwendigen Voraussetzungen erfüllten, unverändert.

Im Gesetz wurden zugleich die Voraussetzungen für die Bleiberechtsregelungen nach § 25a und § 25b AufenthG geändert, in die der aufenthaltsrechtliche Wechsel im Rahmen des Chancen-Aufenthaltsrechts angestrebt wird. Bedeutsam sind hier vor allem diese Neuerungen:

  • Reduzierung der notwendigen Voraufenthaltszeiten:  Erwachsene können nun nach sechs (früher: acht) Jahren und Familien mit Kindern nach vier (früher: sechs) Jahren für die Bleiberechtsregelung des § 25b AufenthG infrage kommen. Junge Menschen können bereits nach drei (früher: vier) Jahren einen Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG beantragen. 
  • Ausweitung der Altersgrenze des § 25a AufenthG für junge Menschen: Die Beantragung der Aufenthaltserlaubnis ist nun bis zur Vollendung des 27. (früher: des 21.) Lebensjahres möglich.
  • Einführung einer „Vorduldungszeit“ im § 25a AufenthG: Nur Personen, die vor Antragstellung 12 Monate lang fortlaufend geduldet waren, dürfen künftig den Titel nach § 25a AufenthG beantragen. Ausgeschlossen von der Regelung werden somit insbesondere Personen, deren Asylverfahren während der 12 Monate vor dem Stichtag noch lief (weshalb sie im Besitz einer Aufenthaltsgestattung waren). Die Vorduldungszeit wurde „in letzter Minute“ in das Gesetz eingefügt und von Fachverbänden heftig kritisiert, da kein sachlicher Grund für die Einschränkung des betroffenen Personenkreises ersichtlich sei und sie integrationshemmend wirke.

Zur Neuregelung des Chancen-Aufenthaltsrechts und der Bleiberechtsregelungen hat das Bundesinnenministerium Anwendungshinweise veröffentlicht, die in unserer Entscheidungsdatenbank zu finden sind (siehe Link unten). Die Diakonie hat hierzu Hinweise und Checklisten für die Beratungspraxis erstellt, die unter Arbeitshilfen zum Aufenthaltsrecht abrufbar sind (siehe Link unten).

Neben diesen zentralen Neuregelungen enthält das Gesetz noch weitere Änderungen, wie etwa Erleichterungen beim Familiennachzug zu Fachkräften und die Öffnung von Integrationskursen für sämtliche Gruppen von Asylsuchenden. Es wurden jedoch auch weitere Verschärfungen eingefügt. So wurde der Ausweisungsschutz für Schutzberechtigte eingeschränkt und die zulässige Dauer der Abschiebungshaft für straffällig gewordene Personen wurde verlängert. Bezüglich dieser Änderungen machten Sachverständige im Gesetzgebungsverfahren Zweifel an der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht geltend.

Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren

Im Gegensatz zum Chancen-Aufenthaltsrechtsgesetz wurde das Asylgerichtsverfahrensgesetz innerhalb eines Monats sehr eilig durch das Gesetzgebungsverfahren gebracht. Dabei wurden vielfältige und komplexe Änderungen sowohl am behördlichen als auch am gerichtlichen Asylverfahren vorgenommen. Das Verfahren stieß auf Kritik, weil sowohl für Fachverbände als auch für die Gesetzgebungsorgane kaum eine Möglichkeit bestand, sich in angemessener Weise mit den Inhalten des Entwurfs auseinanderzusetzen. Ähnlich hektische Verfahren hätten in der Vergangenheit unter der Großen Koalition dazu geführt, dass Gesetze mit offensichtlichen „handwerklichen“ Mängeln in Kraft getreten seien bzw. sich gesetzliche Neuerungen später als verfassungswidrig erwiesen hätten.

Geändert wird durch das Gesetz unter anderem die Regelung zur Asylverfahrensberatung (§ 12a AsylG), die seit ihrer Einführung 2019 von Fachverbänden als nicht ausreichend bemängelt wurde. Während die frühere Fassung des Gesetzes vorsah, dass die Beratung im Wesentlichen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgen soll, ist nun die Förderung einer behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung gesetzlich vorgesehen. Zugleich soll die Beratung laut Gesetz „ergebnisoffen, unentgeltlich, individuell und freiwillig“ erfolgen. Organisationen, die Asylverfahrensberatung anbieten wollen, müssen ihre Zuverlässigkeit, die ordnungsgemäße und gewissenhafte Durchführung der Beratung sowie Verfahren zur Qualitätssicherung und -entwicklung nachweisen.

Mit dem neuen Gesetz abgeschafft wird die sogenannte Regelwiderrufsprüfung (früher: § 73 Abs. 2a AsylG): Danach hatte das BAMF spätestens drei Jahre nach der Zuerkennung eines Schutzstatus zu prüfen, ob dieser zurückzunehmen oder zu widerrufen sei. Die Regelüberprüfung war langjährig kritisiert worden und in den letzten Jahren breit angelegte Prüfverfahren führten nur in den seltensten Fällen tatsächlich zum Widerruf. Nunmehr soll die Prüfung, ob der Schutzstatus zu entziehen ist, künftig nur noch „anlassbezogen“ erfolgen, wenn das BAMF „Kenntnis von Umständen oder Tatsachen erhält, die einen Widerruf oder eine Rücknahme rechtfertigen könnten“, wie es europarechtlich vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang wurden die Vorschriften zum Erlöschen und zu Widerrufs- und Rücknahmeverfahren umfassend umgestaltet und als unionsrechtswidrig eingestufte Regelungen zum Erlöschen geändert. Regelungen zum Widerrufsverfahren, die bei ihrer Einführung 2018 als unionsrechtswidrig kritisiert wurden, allerdings wurden beibehalten und sind nunmehr im § 73b AsylG geregelt.

In Bezug auf das behördliche und gerichtliche Asylverfahren wurden zahlreiche weitere Änderungen eingeführt. Hierzu zählen insbesondere:

  • Die Sprachmittlung im Asylverfahren mittels Video-Übertragung (§ 17 Abs. 3 AsylG).
  • Der Einsatz des Bundesverwaltungsgerichts als sogenannte Tatsacheninstanz (§ 78 Abs. 8 AsylG): Demnach kann ein Oberverwaltungsgericht (OVG) künftig die Revision an das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zulassen, wenn es „in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht“. In derartigen Fällen ist das BVerwG künftig nicht mehr an die tatsächlichen Feststellungen des OVG gebunden, sondern nimmt selbst eine Beurteilung der Lage im Herkunfts- oder Zielstaat vor, kann jedoch nicht selbst Beweise erheben.
  • Das Absehen von der erneuten Prüfung von Abschiebungsverboten bei Unzulässigkeitsablehnungen, wenn diese bereits in einem früheren Verfahren geprüft wurden (§ 31 Abs. 3 S. 3 AsylG). Dies dürfte vor allem auf Folgeanträge zutreffen. Hier wurde von Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren angemahnt, dass der pragmatische Umgang des BAMF mit Folgeanträgen nach Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nach der nunmehr geltenden Regelung nicht mehr möglich wäre.
  • Die Möglichkeit für das BAMF, zusätzlich zur Verfahrenseinstellung nach § 33 AsylG auch nach Aktenlage zu entscheiden, wenn angenommen wird, dass Asylsuchende ihr Verfahren nicht weiter betreiben.

Von Fachverbänden werden viele der Änderungen als unnötig und unsachgemäß kritisiert. So gehen anwaltliche Verbände etwa davon aus, dass sowohl behördliche als auch gerichtliche Asylverfahren eher verzögert als verkürzt werden und mahnen, dass durch das Gesetz die Rechte von Asylsuchenden weiter eingeschränkt würden. Von Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren wurde vielfach betont, dass das Asylverfahrens- und -prozessrecht an vielen Stellen bereits Sonderregelungen enthält, die in Bezug auf den Rechtsschutz vom allgemeinen Verwaltungsverfahrens- und Prozessrecht abweichen. Statt weiteres Sonderrecht zu schaffen, solle die Gesetzgebung die Regelungen im Asylrecht den allgemeinen Regelungen angleichen (siehe hierzu die Stellungnahmen, die unter dem u.g. Link in der Zusammenstellung des Flüchtlingsrats Berlin zu finden sind).

Entscheidungsdatenbank:


Hinweis

Aufgrund vielfältiger Gesetzesänderungen können einzelne Arbeitshilfen in Teilen nicht mehr aktuell sein. Wir bemühen uns, so schnell wie möglich eine aktualisierte Version zu verlinken. Bis dahin bitten wir Sie, auf das Datum der Publikation zu achten und zu überprüfen, ob die Informationen noch korrekt sind.

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