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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.01.2025 - 12 N 23/24 - asyl.net: M33120
https://www.asyl.net/rsdb/m33120
Leitsatz:

Berücksichtigung familiärer Bindungen auch bei Aufenthaltsgestattung:

"Die Frage, ob bei der Entscheidung über eine Abschiebungsandrohung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, familiäre Bindungen auch dann entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet (bisher) lediglich gemäß § 55 AsylG (juris: AsylVfG 1992) zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu bejahen; dem hat der Gesetz­geber durch den Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes Rechnung getragen (Rn. 8) (Rn. 10)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Aufenthaltsgestattung, Achtung des Familienlebens, Grundsätzliche Bedeutung, Beschleunigungsgebot, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AsylG § 55, GG Art. 6, GR-Charta Art. 7, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

7 Die grundsätzliche Bedeutung ist jedoch abzulehnen, da sich die Rechtsfrage mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unschwer bejahen lässt (vgl. die obergerichtlichen Entscheidungen, die den Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG auf Basis der identischen Rechtsfrage der Beklagten ebenfalls ablehnen: OVG SN, Beschluss vom 14. Oktober 2024 – 4 A 303/23.A –, juris Rn. 8 ff.; OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn. 6 ff.; Beschluss vom 1. Februar 2024 – 10 LA 44/24 –, juris Rn. 14; OVG BE-BB, Beschluss vom 11. April 2024 – OVG 12 N 25/24 –, BA S. 2f.; Beschluss vom 15. März 2024 – OVG 12 N 24/24 –, BA S. 2 f.; vgl. allgemein zur Ablehnung der Zulassung bei fehlender Klärungsbedürftigkeit BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 – 1 B 83.21 –, juris Rn. 21; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 143). [...]

9 Auch wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, das zur Vorlage an den EuGH führte, das Schutzbegehren eines Minderjährigen betraf, dessen Vater und Schwester zuvor jeweils eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten hatten, beschränkt der EuGH seine Schlussfolgerungen nicht auf diese Konstellation. Er führt vielmehr aus, dass Art. 5 Rückführungsrichtlinie allgemein der Wahrung mehrerer Grundrechte diene und seinem Schutzzweck entsprechend nicht eng ausgelegt werden dürfe [...]. Demnach gebieten Art. 5 lit. a und b Rückführungsrichtlinie die gebührende Berücksichtigung der familiären Bindungen im gesamten Verfahren, unabhängig davon, ob der Aufenthalt des betreffenden Familienmitglieds "nur" gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist [...]. Auch bei der Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG handelt es sich um ein zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und damit vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht, so dass bereits dem Wortlaut nach sowie entsprechend allgemeiner Auffassung ein rechtmäßiger Aufenthalt des Familienangehörigen vorliegt [...]. Zudem lässt sich vor dem Abschluss des Asylverfahrens noch nicht feststellen, ob dieses in ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht mündet. Abgesehen davon kann vielfach bereits angesichts der erheblichen Dauer des Asylverfahrens nicht von einer lediglich kurzfristig wirkenden Aufenthaltsgestattung gesprochen werden.

10 Nach Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes kommt inzwischen auch in den gesetzlichen Grundlagen deutlich zum Ausdruck, dass die nur verfahrensgebundene Aufenthaltsgestattung eines Familienmitglieds gemäß § 55 AsylG der Berücksichtigung familiärer Belange bei der Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht: So sieht § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG) in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH und der Rückführungsrichtlinie im Gegensatz zur früheren Fassung mittlerweile vor, dass auch bei lediglich vorübergehenden Gründen für eine Aussetzung der Abschiebung nur noch in Ausnahmefällen (insbesondere der Straffälligkeit des Ausländers, vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b Rückführungsrichtlinie) eine Abschiebungsandrohung erfolgen darf. [...]