Subsidiärer Schutz für Grundwehrpflichtigen aus Russland:
1. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass Grundwehrpflichtige bei Rückkehr nach Russland in die russische Armee einberufen und in den Ukraine-Krieg entsandt werden. Sie müssten dort an einem völkerrechtswidrigen Krieg teilnehmen, und es drohen schwerste Schäden an Leib und Leben. Insbesondere Grundwehrpflichtige befinden sich in einer besonderen Situation, weil sie hierarchisch an unterster Stufe stehen und so ihren Vorgesetzten ausgeliefert und im Krieg mangels ausreichender Ausbildung besonders gefährdet sind. Ihnen droht eine zwangsweise Rekrutierung als Vertragssoldaten.
2. Die russische Armee hat angesichts ihres hohen und akuten Personalbedarfs ein starkes Interesse an der Einberufung einer möglichst hohen Zahl an Wehrpflichtigen (ausdrücklich entgegen OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 22. August 2024 - OVG 12 B 17/23 und OVG 12 B 18/23 - asyl.net: M32833).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
2. Der Kläger hat aber im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 28 Abs. 1a AsylG. [...]
b) Bei prognostischer Würdigung der Gesamtumstände des vorliegenden Falls ist die Kammer davon überzeugt (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass der Kläger im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Nach umfassender Auswertung aktuell zugänglicher Erkenntnisse ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach Ansicht der Kammer beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nach seiner Rückkehr in absehbarer Zeit gegen seinen Willen zum Grundwehrdienst in der russischen Armee einberufen (dazu aa) und in den Ukraine-Krieg entsandt werden wird (dazu bb), wo er damit zu rechnen hätte, zwangsweise an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und völkerrechts- und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen bzw. selbst schwersten Schaden an Leib und Leben zu erleiden (dazu cc).
aa) Es ist nach Überzeugung der Kammer im maßgeblichen Zeitpunkt der heutigen gerichtlichen Entscheidung beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nach einer Rückkehr in die Russische Föderation zeitnah zum Grundwehrdienst eingezogen werden wird.
(1) Der Kläger gehört als gesunder, lediger und kinderloser 21-jähriger Mann russischer Staatsangehörigkeit zum Kreis der aktuell in der Russischen Föderation grundwehrpflichtigen Personen.
Die Verpflichtung zum allgemeinen Wehrdienst in der Russischen Föderation trifft nach dem Föderalen Gesetz Nr. 53-FZ über die Wehrpflicht und den Militärdienst und der Verordnung über die Wehrerfassung seit 1. Januar 2024 grundsätzlich unterschiedslos alle Männer im Alter zwischen 18 bis 30 Jahren, die russische Staatsbürger sind und sich dauerhaft in der Russischen Föderation aufhalten bzw. dort gemeldet sind (s.o.). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind unter anderem Personen vom Wehrdienst befreit, die wegen ihres Gesundheitszustands untauglich oder eingeschränkt tauglich sind, ebenso Strafgefangene und Söhne oder Brüder von Personen, die infolge der Ausübung ihrer militärischen Dienstpflichten verstorben sind. Bestimmte Staatsbürger dürfen die Ableistung des Wehrdiensts aufschieben, so zum Beispiel Personen, die aus gesundheitlichen Gründen als vorübergehend untauglich eingestuft werden, pflegende Angehörige, Alleinerziehende, kinderreiche Väter, Parlamentsabgeordnete oder auch Vollzeit-Studierende [...].
Für das Bestehen eines aktuell gesteigerten Interesses der russischen Rekrutierungsbehörden an einer möglichst effizienten und umfassenden Einziehung von Grundwehrpflichtigen spricht zudem, dass die für die Einberufung geltenden Regelungen und Verfahren mehrfach verschärft worden sind, die Einberufungspraxis an Schärfe und Unerbittlichkeit – bis hin zum Einsatz illegaler Mittel – gewonnen hat und die strafrechtliche Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung intensiviert worden ist [...]. In diesem Zusammenhang ist zunächst die bereits im April 2023 beschlossene Einführung der Möglichkeit der Zustellung von Einberufungsbefehlen über ein neu einzurichtendes elektronisches "Einberufungsbefehlsregister" [...] zu nennen. Mit Einführung dieses Registers müssen Einberufungsbefehle nicht mehr unbedingt persönlich übergeben und der Empfang vom Adressaten nicht mehr bestätigt werden [...]. Stattdessen können Einberufungsbefehle ab Einrichtung des Registers allein auf elektronischem Weg zugestellt werden [...]. Sieben Tage nach Hochladung des Einberufungsbefehls in das Register gilt dieser als zugestellt; ab dem Tag der Einstellung des Einberufungsbefehls in das Register soll zudem ein Ausreiseverbot und eine Pflicht zur Abgabe des Reisepasses an die Behörden gelten. 20 Tage nach dem Hochladen des Einberufungsbefehls (Vorladung) kommen weitere Beschränkungen hinzu, sofern der Einberufene ohne Grund noch nicht beim Militärkommissariat vorstellig geworden ist. Diese Beschränkungen bestehen u.a. in einem Fahrverbot [...], dem Verbot, ein Fahrzeug anzumelden, einen Kredit aufzunehmen, Immobilien zu kaufen oder zu verkaufen oder sich als Einzelunternehmer zu registrieren [...]. Erklärtes Ziel der Einrichtung dieses Registers ist es, Wehrdienstentziehung zu verhindern [...]. Zwar war dieses "Einberufungsbefehlsregister" wegen technischer Probleme bisher nur probeweise im Einsatz. Ab 1. Januar 2025 soll der Echtbetrieb starten, sodass im Rahmen der ab 1. April 2025 anstehenden Frühjahrskampagne die beschriebenen Neuerungen erstmals in vollem Umfang umgesetzt werden können [...] und damit eine noch effektivere und umfangreichere Einberufung von Grundwehrdienstpflichtigen – unter Umständen sogar im Ausland [...] – ermöglichen werden. [...]
Die in der Praxis von den russischen Behörden gegenüber Grundwehrdienstpflichtigen angewandten Rekrutierungsmethoden, die sich bereits im ersten Kriegsjahr als besonders rabiat, übergriffig und in weiten Teilen illegal erwiesen haben [...], haben den Erkenntnissen zufolge in den Jahren 2023 und 2024 noch zugenommen, darunter insbesondere die Fälle der Zwangseinberufung [...]. So wurden unter anderem in Moskau ab dem Sommer 2023 junge Männer bei Razzien von Polizisten an ihren Studienorten, in Wohnheimen, Wohnungen, auf der Straße, in der U-Bahn und in Moscheen aufgegriffen, um direkt zu Rekrutierungsbüros gebracht zu werden [...]. Zurückgegriffen wurde dabei auch auf die teils an öffentlichen Plätzen installierte Gesichtserkennungssoftware [...].
Aus alldem ergibt sich nach Ansicht der Kammer der enorm hohe Stellenwert und das weiterhin hohe Interesse der russischen Militärbehörden an der stetigen Einziehung einer möglichst großen Zahl an Wehrpflichtigen. Entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, welches angenommen hat, dass die russische Armee angesichts der aktuellen Kriegssituation lediglich an der Rekrutierung sofort einsatzfähiger und (gut) ausgebildeter Männer , nicht aber an der Rekrutierung von jungen Wehrpflichtigen interessiert ist und weiterhin der Umbau der russischen Streitkräfte zu einer Berufsarmee angestrebt wird [...], ist die Kammer der Überzeugung, dass sich aus den vorliegenden Erkenntnissen ergibt, dass die russische Armee angesichts ihres akuten und enorm hohen Personalbedarfs ein starkes Interesse an der Einberufung einer möglichst hohen Zahl an Wehrpflichtigen hat. Dies deswegen, weil sie diese jungen Männer dringend braucht, um ihre hohen Verluste an der Front auszugleichen, sei es, um sie in den annektierten ukrainischen Gebieten oder in den ukrainisch-russischen Grenzregionen einzusetzen und dadurch andere Kräfte freizusetzen [...], sei es, um sie – gegebenenfalls nach Unterzeichnung eines Vertrages – als "Kanonenfutter" [...] an die Front zu entsenden [...]; siehe gleich unter bb). [...]
Die vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in Bezug genommenen Pläne für den Umbau der russischen Armee zu einer Berufsarmee ("Professionalisierung") entstammen einer Zeit lange vor Kriegsbeginn [...], auf der jedenfalls seit Kriegsbeginn im Jahr 2022 offensichtlich nicht mehr der Fokus des Kreml liegt [...]. Stattdessen scheint sich im Kreml die Überzeugung durchgesetzt zu haben, dass "die Einberufung von mehr Wehrpflichtigen automatisch dazu führt, dass insgesamt mehr Wehrpflichtverhältnisse in Vertragsverhältnisse (Vertragssoldaten) umgewandelt werden" [...]. Hinzu kommt, dass Grundwehrpflichtige nicht zuletzt auch deswegen für die russische Armee interessant sind, weil sie nach Ableistung ihres einjährigen Dienstes automatisch Teil der aktiven Reserve werden [...].
Zwar ergibt sich aus den Erkenntnismitteln, dass trotz des Kriegs in der Ukraine und der im Herbst 2022 angeordneten Teilmobilmachung das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf Wehrdienstverweigerung nicht ausgesetzt ist, sondern für grundwehrpflichtige Männer grundsätzlich weiterhin die rechtliche Möglichkeit besteht, einen Antrag auf Ableistung eines alternativen Zivildienstes zu stellen [...]. Einige wenige Anträge sollen auch in den letzten Monaten positiv beschieden worden sein [...]. Aktuelle Angaben über die Zahl der jährlich gestellten Zivildienstanträge liegen, insbesondere in Bezug auf 2023 und 2024, allerdings ebenso wenig vor wie Angaben zu aktuellen Anerkennungsquoten [...].
Soweit in einigen Quellen von einer Anerkennungsquote von rund 50 Prozent gesprochen wird, beziehen sich diese Aussagen nicht auf die letzten Einberufungskampagnen aus den Jahren 2023/2024 [...] und sind deswegen nicht einfach auf den entscheidungserheblichen Zeitpunkt übertragbar. In Bezug auf die letzten zwei Jahre bekannt ist allerdings, dass die Zahl der Zivildienstleistenden extrem niedrig geblieben ist im Vergleich zu der Zahl der jährlich zum Wehrdienst einberufenen Grundwehrpflichtigen [...], nämlich bei rund 260.000 bis 300.000 Einberufenen jährlich nur rund 1.000 bis 2.000 registrierte Zivildienstleistende [...].
Jeder Wehrpflichtige muss sich daher von vornherein darauf einstellen, gegebenenfalls vor Gericht zu klagen, ohne jedoch mit Erfolg rechnen zu können. Auch riskieren Wehrpflichtige, die sich zur Begründung ihres Antrags auf eine etwaige Anti-Kriegs-Einstellung berufen, dass sie in der Folge wegen "Diskreditierung der Armee" oder ähnlichen Tatbeständen strafrechtlich verfolgt werden [...]. Zwar gibt es bisher kaum Berichte über derartige Strafprozesse gegen Grundwehrdienstverweigerer. Über die wenigen bekannt gewordenen Strafverfahren wurde in den russischen Medien allerdings derart ausführlich berichtet, dass von dieser Berichterstattung nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein deutlich abschreckender Effekt ausgegangen ist [...]. Hinzu kommt, dass für diejenigen Wehrpflichtigen, die in eine Razzia geraten oder die sonst ad hoc von der Polizei aufgegriffen oder aufgesucht werden, keine Möglichkeit mehr besteht, noch erfolgreich einen Antrag auf Ableistung eines Zivildienstes zu stellen [...].
bb) Nach Überzeugung der Kammer ist es außerdem beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger von den russischen Behörden gegen seinen Willen in den Ukraine-Krieg entsandt werden wird. Dabei bewertet das Gericht die Gefahr noch als mit der Rückkehr im Zusammenhang stehend, auch wenn eine Entsendung in den Ukraine-Krieg gegebenenfalls nicht sofort, sondern je nach Entwicklung der allgemeinen und individuellen Situation auch erst nach Ableistung einer (teilweisen) Grundausbildung für Grundwehrdienstleistende erfolgt [...]. Angesichts der sich im Zeitpunkt der heutigen Entscheidung hierzu verdichtenden Erkenntnislage sieht die Kammer den tatsächlichen Eintritt einer der unten geschilderten prognostischen Möglichkeiten, wie es in absehbarer Zeit zu einer Entsendung des Klägers in den Ukraine-Krieg kommen kann, als im Ergebnis beachtlich wahrscheinlich an. Dies gilt vor allem angesichts der besonderen Schwere der Grundwehrpflichtigen im Fall einer Entsendung in den Ukraine-Krieg drohenden Schäden an besonders hochwertigen Rechtsgütern (dazu unter cc). [...]
Nach alldem ist derzeit zwar nicht davon auszugehen, dass russische Grundwehrdienstleistende – als solche – in größerem Umfang zwecks Teilnahme an Kampfhandlungen in das Gebiet der (Kern-)Ukraine entsandt werden. Die Kammer hat nach Sichtung der aktuellen Erkenntnisse jedoch die Überzeugung gewonnen, dass einberufenen russischen Grundwehrdienstleistenden aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, entweder nach zwangsweiser Rekrutierung als Vertragssoldaten zur Teilnahme an Kampfhandlungen direkt in den Ukraine-Krieg (dazu [1]) oder als Grundwehrpflichtiger in die russisch-ukrainischen Grenzregionen entsandt zu werden (dazu [2]), wo ihnen sodann in beiden Fällen eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung droht (dazu cc).
(1) Nach Überzeugung der Kammer bestätigen die neuesten Erkenntnisse im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, dass der russische Staat weiterhin und vermehrt darauf setzt, Grundwehrdienstleistende zum Vertragsabschluss mit den russischen Streitkräften zu nötigen, um sie sodann ohne Einschränkung als Vertragssoldaten an die Front in der (Kern-)Ukraine entsenden zu können.
Grundwehrdienstleistende, die sich mittels Vertrags mit dem russischen Verteidigungsministerium als Vertragssoldaten ("kontraktniki") verpflichten, werden nicht weiter als Wehrdienstleistende geführt und können nach russischem Recht unmittelbar in den Krieg gegen die Ukraine und zu Einsätzen an der Front im In- und Ausland entsandt werden [...]. Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel hält die Kammer an ihrer bisherigen Einschätzung fest und sieht es auch weiterhin als beachtlich wahrscheinlich an, dass die russischen Militärbehörden unter Ausübung von Druck, Zwang, Täuschung und physischer sowie psychischer Gewalt vermehrt bis systematisch von der Möglichkeit Gebrauch machen und prognostisch machen werden, Wehrpflichtige zum Abschluss eines Vertrages mit dem russischen Verteidigungsministerium zu nötigen, um sie dann zeitnah zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg einzusetzen [...].
Angesichts der extrem hohen Verluste der russischen Armee [...] – durchschnittlich mindestens 1.200 Opfer/Tag im Jahr 2024 [...] – und der Unpopularität einer erneuten Teil- oder gar Generalmobilmachung [...]sind die russischen Behörden in den letzten zwei Jahren zu einer von vielen Quellen als "verdeckte Mobilisierung" [...] bezeichneten Rekrutierungsmethode übergegangen [...]. Diese besteht – neben der Anwerbung von Kämpfern für Freiwilligenformationen wie z.B. private Militärfirmen [...] – im Wesentlichen darin, so viele Vertragssoldaten wie irgend möglich für den Kriegsdienst in der Ukraine anzuwerben. [...]
Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2022 wandten sich nach Informationen des Auswärtigen Amtes Männer aus verschiedenen Regionen Russlands an den russischen Menschenrechtsrat – mithin eine offizielle Stelle – und reichten Beschwerden über Nötigungen zum Vertragsabschluss ein [...]. Inzwischen wird von konkreten Fällen der Täuschung, Fälschung, physischer und psychischer Gewalt berichtet [...]. Dabei sticht derjenige Fall besonders heraus, in dem ein Wehrpflichtiger erschossen worden ist, weil er den Vertrag nicht unterschreiben wollte [...]; dasselbe gilt für den Fall, in dem ein Wehrpflichtiger solange ohne Nahrung in einem Erdloch bleiben musste, bis er sich bereit erklärte, den Vertrag zu unterschreiben [...]. Auch gibt es Berichte über Fälle, in denen junge Männer rechtswidrig inhaftiert wurden, um unter diesem Druck dann zur Vertragsunterschrift gebracht zu werden [...].
Eine ganz wesentliche Rolle spielt nach Überzeugung der Kammer im vorliegenden Zusammenhang zudem die besondere Situation, in der sich Grundwehrdienstleistende ab ihrer Einberufung in die russische Armee befinden. Denn nach den vorliegenden Erkenntnissen ist bis heute die sog. "Herrschaft der Großväter" (Dedowschtschina) in russischen Militäreinheiten weit verbreitet [...]. Dabei handelt es sich um ein System der schikanösen Erniedrigung, Vergewaltigung, der groben körperlichen Gewalt und Einschüchterung von jüngeren wehrpflichtigen Soldaten durch dienstältere Soldaten und Vorgesetzte [...]. Sie existiert in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabern unterstützt bzw. geduldet [...]. Selbst wenn in anderen Einheiten dieses System nicht in seiner gesamten Ausprägung praktiziert werden sollte, so herrscht in der russischen Armee insbesondere in der aktuellen Situation ein Klima der Angst, in welchem die bestehenden Hierarchien bzw. das vorhandene Machtgefälle von Vorgesetzten regelmäßig ausgenutzt werden [...].
Zudem handelt es sich bei den Grundwehrpflichtigen oft um junge, unerfahrene Männer, die oft heimatfern stationiert werden und während der Ableistung ihres Grundwehrdienstes ihren Vorgesetzten weitgehend ausgeliefert sind [...].
Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, junge, gesunde und arbeitsfähige Wehrpflichtige hätten es in der Russischen Föderation "allein in der Hand", ihrem Willen entsprechend eine Entscheidung über eine Verpflichtung als Vertragssoldat zu treffen [...], nicht für überzeugend [...]. Letztlich widerspricht diese Ansicht auch der aktuellen Einschätzung sachkundiger Kommentatoren, derzufolge Grundwehrpflichtige, Gefängnisinsassen und Angehörige indigener Gruppen im Hinblick auf eine mögl iche Zwangsrekrutierung als besonders vulnerabel anzusehen sind [...].
(2) Die Kammer hat nach Sichtung der aktuellen Erkenntnisse zudem die Überzeugung gewonnen, dass einberufenen russischen Grundwehrdienstleistenden derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, in die russisch-ukrainischen Grenzregionen wie insbesondere die Oblast Kursk entsandt zu werden, wo ihnen sodann eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung droht (siehe hierzu unten cc). [...]
Auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist von einer weiterhin stattfindenden Entsendung von Grundwehrdienstleistenden in an die Ukraine angrenzende Regionen auszugehen, wobei auch hier die zahlenmäßige Größenordnung unklar ist [...]. Die Kampfhandlungen in dieser grenznahen russischen Region halten bis heute an und haben seit der erneuten Offensive der ukrainischen Streitkräfte Anfang Januar wieder an Intensität gewonnen [...].
cc) Sowohl für den Fall der zwangsweisen Rekrutierung als Vertragssoldat [...] als auch für den Fall der Entsendung in die Grenzregion Kursk als Grundwehrpflichtiger [...] droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 3 EMRK [...].
1) Im Fall der Einberufung und zwangsweisen Verpflichtung des Klägers als Vertragssoldat droht ihm nach dem oben Gesagten [...] mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine und damit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 3 EMRK. Einerseits besteht für den Kläger in diesem Fall nämlich die reale Gefahr, in diesem völkerrechtswidrigen Krieg [...] selbst schwer verwundet oder getötet zu werden und damit schwerste Schäden an besonders gewichtigen Rechtsgütern zu erleiden. Andererseits besteht für ihn darüber hinaus die ebenfalls reale Gefahr, sich unmittelbar oder mittelbar an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligen zu müssen, was ebenfalls einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gleichkommt. Ziel und Zweck von Art. 3 EMRK ist unter anderem, diejenigen Verbrechen oder Handlungen zu ächten und zu verhindern, die unter die Ausschlussklausel des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG fallen [...]. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann auch daraus resultieren, dass eine Person bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation geraten wird, in der sie ihrerseits andere Menschen in deren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzen muss [...]. Davon ist hier auszugehen.
Die russischen Streitkräfte und die mit ihnen kämpfenden Truppen begehen in dem von der Russischen Föderation geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine systematisch völker- und menschenrechtswidrige Handlungen im Sinne des Art. 3 EMRK. [...]
Dies zugrunde gelegt, stellt die Entsendung des als Vertragssoldat zwangsverpflichteten Klägers [...] in den völkerrechtswidrigen Ukraine-Krieg eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar. Eine solche Entsendung bringt nach Überzeugung der Kammer beachtlich wahrscheinlich mit sich, dass er sich gezwungenermaßen unmittelbar oder mittelbar an menschen- oder völkerrechtswidrigen Handlungen und Verbrechen wie den oben Beschriebenen beteiligen müsste. Angesichts des geschilderten allumfassenden Charakters der von den russischen Streitkräften im Rahmen des gegen die Ukraine geführten Angriffskriegs begangenen menschen- und völkerrechtswidrigen Handlungen ist davon auszugehen, dass im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung die reale Möglichkeit besteht, dass derartige Verbrechen in allen Einheiten und an allen potentiellen Einsatzorten im Rahmen des russischen Angriffskriegs vorkommen und der Kläger im Fall seiner Entsendung sich gegen seinen Willen an ihrer Begehung wird beteiligen müssen.
Dabei kommt es nach Auffassung der Kammer nicht darauf an, dass der Kläger – als einfacher (unausgebildeter) Vertragssoldat – voraussichtlich keine höherrangige Position einnehmen, sondern unter Umständen nur eine ausführende oder gar nur eine unterstützende Tätigkeit zugeteilt bekommen wird. Denn auch derartige Tätigkeiten und die mit ihnen verbundene erzwungene mittelbare Beteiligung an menschen- oder völkerrechtswidrigen Handlungen stellen unter den gegebenen Umständen für den Betroffenen eine unmenschliche, gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung dar [...]. Es erscheint vorliegend hinreichend plausibel, dass der Kläger, wenn er erst einmal an der Front im Einsatz ist, sich in der einen oder anderen Weise an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird beteiligen müssen, und sei es zum Beispiel auch nur durch die Festnahme, Bewachung oder Begleitung von ukrainischen Gefangenen in Zusammenhang mit Folterungen, Exekutionen oder der Ausübung von sexueller, physischer oder psychischer Gewalt [...].
Der Umstand, dass die besagten Kämpfe in der Region Kursk, d.h. auf russischem Territorium stattfinden und die dortige Stationierung von Grundwehrpflichtigen nach offizieller russischer Lesart allein der russischen Landesverteidigung dient, ändert nach Überzeugung der Kammer nichts an dieser Einschätzung [...]. Denn unabhängig von der vorliegend nicht entscheidungserheblichen Frage, inwieweit die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte durch das Völkerrecht, hier insbesondere durch das ihr nach Art. 51 der UN-Charta zustehende Recht auf Selbstverteidigung [...] gedeckt ist, unterliegen die russischen Streitkräfte im Rahmen ihrer Kriegsführung – unabhängig vom Ort der jeweiligen Kampfhandlungen – den Regeln des humanitären Völkerrechts, so wie es sich insbesondere aus den Genfer Konventionen wie u.a. dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen und dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten ergibt, zu deren Vertragsstaaten auch die Russische Föderation zählt [...]. Gründe dafür, dass die durch die ukrainische Gegenoffensive ausgelösten Kämpfe in den russisch-ukrainischen Grenzregionen nicht als Teil des russischen Angriffskriegs anzusehen sein könnten, sieht die Kammer nicht.
Im Ergebnis ist die Kammer überzeugt, dass dem Kläger nach Rückkehr in die Russische Föderation und Einberufung zum Grundwehrdienst auch im Fall seiner anschließenden Entsendung in die Grenzregion Kursk – ebenso wie im Fall seiner Zwangsverpflichtung als Vertragssoldat (s.o.) – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit der Eintritt schwerster Schäden an seiner physischen und/oder psychischen Gesundheit – zum Beispiel durch eine schwere Traumatisierung – droht, sodass ihm eine Rückkehr letztlich nicht zuzumuten ist. [...]