Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Gefahr für die Allgemeinheit:
Für die Feststellung, ob von einer Person eine Gefahr für die Allgemeinheit (nach § 60 Abs. 8b AufenthG) ausgeht, bedarf es einer zukunftsgerichteten Prognoseentscheidung, die eine ernsthaft drohende Gefahr der Begehung vergleichbarer Straftaten feststellt. Dabei sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der Straftat, die Umstände der Tatbegehung und das Gewicht des bei einem Rückfall betroffenen Rechtsgutes sowie die Persönlichkeit des Täters, seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8b AufenthG sind erfüllt. Danach kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat eine Straftat nach § 177 StGB, § 96 oder§ 97 AufenthG ist (Nr. 1), die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist (Nr. 2) oder im Rahmen des Urteils ein antisemitischer, rassistischer, fremdenfeindlicher, geschlechtsspezifischer, gegen die sexuelle Orientierung gerichteter oder sonstiger menschenverachtender Beweggrund im Sinne von § 46 Abs. 2 S. 2 StGB ausdrücklich festgestellt wurde.
a) Durch das Urteil des Amtsgerichts … [...] vom … 2021 wurde der Kläger wegen sexueller Belästigung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. [...] Mithin liegt eine Verurteilung zu einer (Einzel-)Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen sexueller Nötigung i.S.d. § 177 StGB, also einer Katalogtat des § 60 Abs. 8b Nr. 1 AufenthG vor. Zudem hat der Kläger nach den Feststellungen und Ausführungen im Urteil in den beiden Fällen der sexuellen Nötigung den Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB erfüllt, der vorliegt, wenn der Täter gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet. Somit liegen zusätzlich zur Katalogtat des § 60 Abs. 8b Nr. 1 AufenthG auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG vor. [...]
b) Des Weiteren muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden, ob der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Hierfür erforderlich ist eine zukunftsgerichtete Prognoseentscheidung, die eine ernsthaft drohende Wiederholungsgefahr der Begehung vergleichbarer Straftaten durch den Ausländer feststellt. Dabei sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. Mitberücksichtigung finden daneben auch Ermittlungsergebnisse eingestellter Strafverfahren, Ermittlungsverfahren und noch nicht rechtskräftige strafrechtliche Entscheidungen.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Einzelfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Wiederholungsgefahr anzunehmen. Angesichts des hohen Rangs, den insbesondere das betroffene Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einnimmt, und des Umstandes, dass Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung regelmäßig mit erheblichen Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Betroffenen einhergehen, sind an die im Rahmen der vorzunehmenden Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen zu stellen. [...]
Bereits die Tat als solche offenbart aufgrund der Art und Weise ihrer Begehung eine Persönlichkeitsstruktur des Klägers, die die Begehung weiterer Straftaten erwarten lässt. Die vom Kläger begangene Tat sticht über die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB hinaus durch besondere Vehemenz und Gleichgültigkeit des Klägers gegenüber den Geschädigten hervor. [...] Zudem ist zu beachten, dass der Kläger durch sein strafrechtlich relevantes Verhalten in zwei Fällen nicht nur die Voraussetzungen des Grundtatbestandes des § 177 Abs. 1 StGB verwirklicht hat, was im Rahmen des § 60 Abs. 8b AufenthG nach der gesetzgeberischen Wertung bereits ausreichend wäre. Vielmehr lagen die Voraussetzungen des Qualifikationstatbestandes der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB und damit eines Verbrechenstatbestandes i.S.d. § 12 Abs. 1 StGB vor. Auch die hierfür verhängten Einzelstrafen lagen mit Freiheitsstrafen von einem Jahr und vier Monaten und einem Jahr und zwei Monaten trotz der zugunsten des Klägers zu berücksichtigenden Umstände zumindest zum Teil nicht nur knapp über der für Taten nach § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB vorgesehenen Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr und überschritt somit auch erheblich die von § 60 Abs. 8b AufenthG geforderte Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. [...]
Zudem bestätigt das im strafgerichtlichen Urteil geschilderte Nachtatverhalten auch die bereits aus der Art und Weise der Tatbegehung erkennbaren Persönlichkeitsmängel. So fragte der Kläger die Geschädigte ... nach der Tat, was los sei. Nachdem die Geschädigte ihn mit den Geschehnissen des Vorabends konfrontierte, zeigte dieser keine Einsicht oder Reue, sondern fragte die Geschädigte, was mit der Polizei gewesen sei und ob sie Anzeige erstattet habe.
Des Weiteren bestehen Zweifel daran, dass beim Kläger eine ernsthafte Schuldeinsicht und Reue gegeben ist. Ausweislich der strafrichterlichen Feststellungen hat der Kläger im Rahmen der öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts ... die Tat bestritten. Nach seinen eigenen Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hatte er die Tat aus Angst bestritten, wollte jedoch später dazu stehen und hat deshalb das Urteil im Berufungsverfahren akzeptiert. Zudem äußerte er erstmals, dass die Tat ein Fehler gewesen sei. Dem steht allerdings gegenüber, dass sich Entsprechendes weder aus den Angaben des Klägers im behördlichen Verfahren noch aus den vorbereitenden Schriftsätzen im gerichtlichen Verfahren ergibt, sondern vielmehr erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung am … 2025 geäußert wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass bereits im Bescheid der Beklagten vom 13.10.2022 auf das fehlende Geständnis und die fehlende Reue bzw. Schuldeinsicht hingewiesen wurde, vermag es nicht zu überzeugen, wenn der Kläger über zwei Jahre nach der Klageerhebung erstmals vorträgt, dass eine Schuldeinsicht bzw. ein Wille, zu der Tat zu stehen, bereits zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Saarbrücken am 08.06.2021 vorgelegen habe. Hinzu kommt auch, dass die Angaben des Klägers, er sei im Nachhinein, nachdem er die Tat vor dem Amtsgericht … bestritten habe, einsichtig geworden, habe unbedingt die Wahrheit sagen wollen und habe sich dann auch eine Anwältin gesucht, ihr alles gesagt und sei im Berufungsverfahren mit dem Urteil des Gerichts einverstanden gewesen, nicht zu den zeitlichen Abläufen der Mandatierung der Verteidigerin, welche ihn im Berufungsverfahren vor dem Landgericht vertrat, passen. Aus der Akte der Staatsanwaltschaft ... ergibt sich insoweit, dass er diese Verteidigerin bereits vor der Verhandlung vor dem Amtsgericht … und nicht erst für das Berufungsverfahren mandatiert hat. Durch das Amtsgericht ... wurde lediglich deren Beiordnung als Pflichtverteidigerin abgelehnt. [...]
Auch der Zeitablauf seit der Tat bzw. der Verurteilung vermag keine Prognose zugunsten des Klägers zu rechtfertigen. Da das Verwaltungsgericht eine längerfristige Prognose anzustellen hat, lässt sich allein aus dem Umstand, dass die dreijährige Bewährungszeit abgelaufen und der Kläger nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen nicht erneut strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, nicht der zwingende Schluss ziehen, dass keine Wiederholungsgefahr mehr vorliegt. Vielmehr ist der Umstand, dass der Kläger seit der Tat vor über fünf Jahren bzw. seit der Verurteilung vor vier Jahren ein nach dem vorliegenden Erkenntnisstand straffreies Leben führt, als ein (wenn auch gewichtiger) Gesichtspunkt im Rahmen der Gefahrenprognose zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Betrachtung ist allerdings ebenfalls zu beachten, dass der Kläger bis zum Erlass der Strafe im Juli 2024 unter dem Druck des laufenden Bewährungsverfahrens stand und auch bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht über das Widerrufsverfahren ein gesteigertes Eigeninteresse des Klägers an einem straffreien Leben besteht, da der Kläger in dieser Zeit, neben weiteren strafrechtlicher Konsequenzen auch Folgen für das noch anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren zu befürchten hat.
Für eine Wiederholungsgefahr spricht auch, dass es sich bei der Verurteilung des Klägers zwar um eine erste strafrechtliche Verurteilung, nicht aber um das erste strafrechtlich relevante Verhalten des Klägers handelt. Den beiden Fällen, in denen ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft Saarbrücken eingestellt bzw. auf den Privatklageweg verwiesen wurde, lag jeweils der Tatverdacht eines Körperverletzungsdeliktes zu Grunde. Dabei ist zu berücksichtigen ist, dass es sich sowohl bei der versuchten Körperverletzung als auch der Körperverletzung jeweils um relative Strafantragsdelikte handelt, § 230 StGB, und Strafantrag nicht gestellt worden war. Der Umstand, dass es bereits vor der Verurteilung strafrechtlich relevante Vorfälle im Bereich der Körperverletzungsdelikte gab, spricht gegen eine Prognose zugunsten des Klägers. Auch der Eindruck bereits gegen ihn durchgeführter Ermittlungsverfahren vermochte den Kläger nicht von der Begehung einer Straftat abzuhalten und begründet die Annahme, dass er trotz der Ermittlungsverfahren und der Verurteilung weiterhin Straftaten begehen wird. Die sich unter Berücksichtigung der eingestellten Ermittlungsverfahren abzeichnende Entwicklung zeigt zudem, dass hinsichtlich körperlicher Übergriffe beim Kläger möglicherweise auch eine abgesenkte Hemmschwelle besteht.
Bei der Beurteilung, ob eine Wiederholungsgefahr vorliegt, bleibt die berufliche Integration bzw. deren Verlauf nicht unberücksichtigt, vermag aber im Ergebnis nicht mit ausreichend Gewicht gegen das Bestehen einer Wiederholungsgefahr zu sprechen. Nach den eigenen Angaben des Klägers hat die Verurteilung eine positive Entwicklung hervorgerufen und er hat sich u.a. um Arbeit bemüht. Insoweit ist eine Entwicklung zu erkennen, die auf eine Stabilisierung der beruflichen Integration des Klägers hindeutet. Insbesondere ist es ihm zwischenzeitlich gelungen, den Bezug staatlicher Leistungen zu beenden und sich beruflich weiter zu qualifizieren. Auch das ehrenamtliche Engagement des Klägers als Übersetzer ist zu berücksichtigen und spricht für seine Integration. Dennoch war der Kläger auch bereits zum Zeitpunkt der Tat … 2019 berufstätig, auch wenn die Einkünfte zu dieser Zeit nicht ausreichten, um ohne staatliche Leistungen den Lebensunterhalt der Familie zu decken. Dies hat den Kläger aber ebenfalls nicht von der Tatbegehung abgehalten.
Auch die vom Kläger angeführte Änderung der familiären Situation spricht nicht gegen das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. Den Angaben des Klägers ist zwar zu entnehmen, dass er die Folgen, die die Tat für seine Familie hatte, bereut. Dies allein ist allerdings nicht ausreichend. Nach den weiteren Angaben des Klägers und den Feststellungen im Strafurteil lebte der Kläger zum Tatzeitpunkt … 2019 getrennt von der übrigen Familie. Zwischenzeitlich wohnt der Kläger wieder mit seiner Familie zusammen. Zwar ist dem Kläger zuzugestehen, dass die Familie als soziale Kontrollinstanz in Betracht kommt. Eine solche soziale Kontrolle ist aber nicht an ein Zusammenleben geknüpft und war damit auch trotz der räumlichen Trennung zum Zeitpunkt der Tat gegeben. Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass der Kläger nach eigenen Angaben fast täglich Kontakt zu seiner Familie hatte und es nur ein bis zwei Tage gab, an denen kein Kontakt stattfand. Der Kontakt zwischen ihm und seiner Ehefrau war zumindest auch so intensiv, dass die Ehefrau erneut schwanger wurde und der Kontakt somit über Angelegenheit betreffend die gemeinsamen Kinder hinausging. Vielmehr spricht gegen den Umstand, dass der Kläger sich durch soziale Bindungen von der Begehung weiterer Taten abhalten lässt, dass nur wenige Tage vor der abgeurteilten Tat, nämlich am … 2019, das gemeinsame Kind des Klägers und seiner Ehefrau zur Welt kam. Selbst der Umstand, dass der Kläger gerade erneut Vater eines weiteren Kindes geworden ist, hielt ihn nicht vor der Begehung der Tat ab. Dies spricht mit Gewicht dafür, dass der Kläger sich nicht durch familiäre Bindungen von der Begehung von Straftaten abhalten lässt. [...]
Eine längerfristige günstige Prognose, dass der Kläger keine weiteren Straftaten mehr begehen wird, vermag das Gericht nach alledem nicht zu erkennen, weshalb nach der Überzeugung des Gerichts feststeht, dass vom Kläger nach wie vor eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.
c) Auch nach der Änderung der Vorschrift des § 60 Abs. 8 AufenthG und der Einführung der Abs. 8a und 8b, wird der Beklagten im Rahmen des Abs. 8b weiterhin ein Ermessen eingeräumt. Dies zeigt auch der Vergleich des Wortlautes des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG in der bis zum 31.10.2024 geltenden Fassung mit dem insoweit identischen Wortlaut des § 60 Abs. 8b AufenthG in der derzeit geltenden Fassung. Die Beklagte hat das ihr in § 60 Abs. 8b AufenthG eingeräumte Ermessen auch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise (§ 114 VwGO) dahingehend ausgeübt, dass sie öffentlichen Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor straffällig gewordenen Asylbewerbern den Vorrang vor dem privaten Interesse des Klägers an dem Erhalt der Flüchtlingseigenschaft eingeräumt hat. [...]