BlueSky

VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 09.01.2025 - 5 L 2398/24.DA.A - asyl.net: M32992
https://www.asyl.net/rsdb/m32992
Leitsatz:

Keine Abschiebung nach Griechenland in den Wintermonaten:

1. Grundsätzlich können junge, gesunde, arbeitsfähige, männliche anerkannte Schutzberechtigte nach Griechenland überstellt werden, weil sie dort Arbeit und eine Unterkunft finden und somit für ihr Existenzminimum sorgen können. Dabei können sie auch auf eine Tätigkeit im Bereich der Schwarzarbeit verwiesen werden, bis sie eine legale Arbeit gefunden haben. Hinsichtlich der Unterkunft können diese Personen auch auf die Vernetzung mit der Community verwiesen werden, um eine Unterkunft zu finden.

2. Trotz der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist eine erstmalige Abschiebung nach Griechenland während der Wintermonate für anerkannte Schutzberechtigte nicht zumutbar. Dies liegt daran, dass vor allem Saisonarbeit in den übrigen Monaten angeboten wird und von dem Verdienst Geld für den Winter erspart werden kann. Dies ist aber bei einer erstmaligen Abschiebung im Winter nicht möglich. Die fehlende Möglichkeit der Arbeitsaufnahme führt auch dazu, dass die Chance, eine Unterkunft zu finden, gering ist. Dem Gericht ist auch nicht bekannt, dass es für alle Personen, die in den Wintermonaten abgeschoben werden, ausreichend Unterkunftsplätze gibt.

(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis auf VGH Hessen, Urteil vom 06.08.2024 - 2 A 1131/24.A - asyl.net: M32776, VGH Hessen, Urteil vom 06.08.2024 - 2 A 489/23.A - asyl.net: M32731 und BVerwG, Beschluss vom 27.01.2022 - 1 B 89.21 - asyl.net: M30406)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Winter, befristete Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Suspensiveffekt, Befristung, Anerkannte, internationaler Schutz in EU-Staat,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben begegnet die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts keinen Bedenken. Das Gericht geht auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisquellen davon aus, dass männlichen anerkannten Schutzberechtigten, die allein nach Griechenland zurückkehren und jung, gesund und arbeitsfähig sind, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht ([...].

Das Gericht folgt dabei der Beurteilung des 2. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Urteil vom 6. August 2024 - 2 A 489/23.A - zur Lage anerkannter Schutzberechtigter in Griechenland, der hierzu wie folgt ausführt (Rn. 42 ff.): [...]

Ergänzend hierzu verweist das Gericht auf Folgendes:

Sofern der Bericht der Asylum Information Data Base unter Verweis auf eine vom UNHCR in Auftrag gegebene Studie statuiert, dass 44 % der Flüchtlinge obdachlos seien (AIDA, Country Report: Greece, 2023 Update, S. 272), ergibt sich dies aus der zitierten Studie nicht. Dort findet sich vielmehr nur eine Grafik, die das Verhältnis von Asylsuchenden und Flüchtlingen in den verschiedenen Unterbringungsformen wiedergibt, nicht den Prozentsatz der Obdachlosigkeit bei Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden (Immigration Policy Lab, ETH Zürich, UCL, Home for Good? Obstacles and Opportunities for Refugees and Asylum Seekers in Greece, Dezember 2023, S. 10, Grafik Nr. 11). Danach sind unter den Obdachlosen mit Fluchthintergrund 44 % Flüchtlinge und 56 % Asylsuchende. Demgegenüber wird der Prozentsatz von Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden in der Studie mit ein bis drei Prozent angegeben [...].

Das Gericht verkennt bei seiner Entscheidung nicht, dass das Unterstützungsprogramm für international Schutzberechtigte HELIOS (Hellenic Integration Support of Beneficiaries of International Protection) zum 30. November 2024 ausgelaufen ist [...]. Auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof ging in seiner Entscheidung von dem Ende des HELIOS-Programms aus, verwies aber auch auf Informationen zur Einführung eines neuen Programms namens HELIOS PLUS [...]. Dem Gericht liegen keine Informationen dazu vor, dass dieses neue Programm mittlerweile gestartet wurde. Dessen Bestehen stellt jedoch für die Bewertung der Lage keinen tragenden Gesichtspunkt dar. Auch ohne das HELIOS-Programm geht das Gericht davon aus, dass es anerkannten Schutzberechtigten gelingen wird, eine den Mindestanforderungen genügende Unterkunft zu finden. Denn bei der Erlangung einer Unterkunft sind nach den vorliegenden Erkenntnissen die landsmannschaftliche Vernetzung und die Unterstützung durch Arbeitgeber von größerer Bedeutung. [...]

Mit dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof hält das Gericht den Verweis anerkannter Schutzberechtigter – ob mit gültiger Aufenthaltserlaubnis oder ohne – auf eine Tätigkeit im Bereich der Schwarzarbeit bis zur Möglichkeit oder dem Auffinden einer legalen Arbeitsstelle indes für zumutbar [...]. Dabei ist nach der Ansicht des Gerichts ein menschenrechtlicher und ein zwischenstaatlicher Aspekt zu unterscheiden. [...]

Stattdessen ist angesichts der beruflichen Vorerfahrungen des Antragstellers im Bereich der Landwirtschaft davon auszugehen, dass er gerade in diesem Wirtschaftszweig in Griechenland trotz fehlender griechischer Sprachkenntnisse gute Chancen in die Vermittlung eines Arbeitsverhältnisses aufweist. Durch die Unterstützung seines vormals als Landwirt tätigen Vaters in Afghanistan hat der Antragsteller in diesem Berufszweig Kenntnisse und Erfahrungen erworben, welche ihn jedenfalls von der breiten Masse übrige Arbeitssuchender herausheben und so für Arbeitgeber attraktiver machen. Zudem hat er nach eigenen Angaben einen Sprachkurs in der englischen Sprache erhalten, sodass er sich zumindest hierüber in einer Anfangszeit mit (potenziellen) Arbeitgebern verständigen kann. Gleiches gilt hinsichtlich der Nutzung von Übersetzungsdiensten im Internet über das im Besitz des Antragstellers befindliche Smartphone. [...]

Zudem legt die Ausreise auf dem Luftweg nahe, dass der Antragsteller und seine mit ihm ausgereisten Familienangehörigen über eigene Finanzmittel verfügt haben müssen, welche sie zum Erwerb von Flugtickets nutzten. Hierfür spricht auch, dass der Antragsteller bei seiner Ankunft im Bundesgebiet im Besitz von rund 100 EUR Bargeld war. Somit steht auch das Vorhandensein von weiteren Finanzmitteln im Raum, auf welche der Antragsteller gerade in der Anfangszeit einer Rückkehr nach Griechenland zurückgreifen könnte.

Im Übrigen ist der Antragsteller hinsichtlich der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und Obdachs auf die Hilfe staatlicher sowie privater Stellen – insbesondere in Form von Kirchen, NGOs und anderen privaten Akteuren – zu verweisen. Dies gilt insbesondere unter Zugrundelegung des Umstandes, dass er als afghanischer Staatsangehöriger der größten Gruppe an anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland angehört (HessVGH, Urt. v. 06.08.2024 – 2 A 489/23.A –, juris Rn. 160 f.), sodass vom Vorhandensein eines weitgefächerten informellen Netzwerks an Landsleuten auszugehen ist, auf welches sich der Antragsteller bei der Suche nach einer Unterkunft, Erwerbstätigkeit sowie Unterstützung wenden kann. [...]

Trotz der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung kommt das Gericht allerdings hinsichtlich der erstmaligen Abschiebung eines anerkannten Schutzberechtigten nach Griechenland während der Wintermonate auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu einer befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO (VG Darmstadt, Beschl. v. 03.01.2025 – 5 L 1712/24.DA.A –, n.v.; vgl. zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, 45. EL Januar 2024, § 80 Rn. 430, 432). [...]

Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes führt selbst aus, dass anerkannte Schutzberechtigte häufig eine Anstellung als Saisonarbeiter finden würden und der Verdienst aus den Sommermonaten zur Überbrückung der Winterzeit genutzt werden könne (S. 13 des Bescheids). Bei einer erstmaligen Abschiebung in den Wintermonaten greift diese Argumentation aber nicht. Ein anerkannter Schutzberechtigter hätte bei einer Abschiebung in den Wintermonaten eine deutlich geringere Möglichkeit, eine zur Vermeidung einer Verelendung erforderliche Arbeit zu finden, wenn die für ungelernte Arbeitskräfte zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze in diesem Zeitraum nicht oder nur deutlich vermindert zur Verfügung stehen. Die fehlende Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme hat jedoch unmittelbare Konsequenzen für die Erlangung eines Obdachs. Die in den letzten Jahren gestiegenen Chancen für anerkannte Schutzberechtigte, ein Obdach zu finden, stützten sich auf die größere Wahrscheinlichkeit einer Arbeitsaufnahme bzw. auf die Unterstützung bei der Unterkunftssuche durch potentielle Arbeitgeber. Auch dieser Aspekt entfällt aber bei saisonabhängiger Beschäftigung oder ist ebenfalls deutlich vermindert.

Darüber hinaus stellt eine drohende – wenn auch nur kurzfristige – Obdachlosigkeit in den Wintermonaten eine ungleich größere Gefahr dar. Bei einer erstmaligen Abschiebung in den Wintermonaten werden diese Gefahren auch nicht durch Unterstützungsleistungen der jeweiligen Landsmannschaft kompensiert, zu denen erst einmal Kontakt aufgenommen werden muss, der in der Regel nicht unmittelbar nach Rückkehr vorhanden sein wird.

Zwar verweist der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil aus dem August 2024 darauf, dass der bis zum Juli 2024 in Griechenland tätige Verbindungsbeamte der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung für die Beklagte vorgetragen habe, dass nach der Überstellung durch die Bundespolizei den abgeschobenen Personen in Griechenland kurzfristig eine Unterkunft gewährt werde. Der Verwaltungsgerichtshof konnte aber für seine Entscheidung nicht aufklären, ob diese neue Praxis für sämtliche rücküberstellte Personen zutreffe (HessVGH, Urt. v. 06.08.2024 – 2 A 489/23.A –, juris Rn. 45 f.). [...]

Diese im vorliegenden Eilverfahren nicht weiter aufzuklärende Sachlage gebietet auf der Basis einer Folgenabwägung daher die befristete Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bei erstmaliger Abschiebung während der Wintermonate. Angesichts des mit Ablauf der Wintermonate absehbaren Wegfalls dieser Erschwernisse beim Auffinden einer Erwerbstätigkeit und damit einhergehend auch von Obdach ist die aufschiebende Wirkung jedoch nur bis zum Winterende im Frühjahr 2025 anzuordnen (§ 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO entsprechend). Danach wird es dem nach Griechenland zurückkehrenden Antragsteller möglich sein, eine Anstellung in den Branchen mit erheblichem Arbeitskräftemangel zu finden, durch welche er – gerade auch über seinen Arbeitgeber, die Vernetzung mit Arbeitskollegen oder in zuvor beschriebener Weise im privaten Umfeld – ebenfalls an Obdach gelangen sowie für die nachfolgenden Winter vorsorgen kann. [...]