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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 23.01.2024 - 8 K 287/22 V - asyl.net: M32899
https://www.asyl.net/rsdb/m32899
Leitsatz:

Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigtem bei Eheschließung nach Ausreise: 

1. Ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG liegt bei einer langen Trennung der Familie vor. Anknüpfungspunkt für die Dauer der Trennung ist in der Regel der Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags. Wurde die Ehe erst nach Einreise des Stammberechtigten nach Deutschland geschlossen, ist Anknüpfungspunkt für die Dauer der Trennung das Datum der Eheschließung. 

2. Der Nachzug eines Kindes zu einem subsidiär Schutzberechtigten setzt keine rechtliche oder leibliche Vaterschaft voraus. Auch die soziale Vaterschaft kann einen humanitären Grund zum Familiennachzug begründen. 

3. Bei einer Eheschließung nach Einreise in das Bundesgebiet sind vom nachzugswilligen Ehegatten deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen. Die Ausnahme vom Spracherfordernis aus § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist nicht anwendbar. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, Eheschließung, Eltern-Kind-Verhältnis, Ehegattennachzug, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, humanitäre Gründe, Trennung, Trennungsdauer,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 36a Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin zu 1 hat als Ehefrau des Beigeladenen zu 2 Anspruch auf Beteiligung an der Auswahlentscheidung gemäß § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG. [...]

Die Klägerin zu 1 ist die Ehegattin eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt (a.) und es liegen auch humanitäre Gründe für die Erteilung des begehrten Visums vor (b.). Der Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG steht der Visumserteilung nicht entgegen, weil ein atypischer Fall vorliegt (c.). [...]

a. Die Klägerin zu 1 und der Beigeladene zu 2 haben ausweislich der im Klageverfahren eingereichten Unterlagen am ... 2023 vor dem Scharia-Gericht in ... die Ehe geschlossen, wobei die Klägerin zu 1 selbst erschienen ist und der Beigeladene zu 2 durch seinen Bruder vertreten wurde. Nach syrischem Recht ist die Ehe ein zivilrechtlicher Vertrag, der durch Angebot und Annahme zustande kommt. Die persönliche Anwesenheit beider Eheschließenden ist nicht zwingend erforderlich, vielmehr kann die Ehe auch durch Stellvertreter geschlossen werden (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht - Syrien, Arabische Republik, 242. EL Juli 2021, S. 26 f., 52 ff.). Gründe, an der Wirksamkeit der am ... 2023 geschlossenen Ehe nach syrischem Recht oder an ihrer Anerkennungsfähigkeit in Deutschland zu zweifeln, gibt es nicht. Insbesondere fand nach der in der Eheurkunde in Bezug genommenen Vollmacht keine Vertretung im Willen statt. Denn die in der syrischen Botschaft in Berlin von dem Beigeladenen zu 2 ausgestellte Vollmacht, welche die Klägerinnen bereits vor der Eheschließung in Kopie zur Akte gereicht hatten, ermächtigt ausdrücklich zur Eheschließung und Bestätigung der Ehe (nur) mit der Klägerin zu 1. [...]

b. Humanitäre Gründe im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen vor. Zum einen ist die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich (§ 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Zum anderen ist ein minderjähriges lediges Kind betroffen (§ 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).

aa. Ein humanitärer Grund resultiert nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aus der Dauer der Trennung, da diese im Rahmen des Schutz- und Fördergebots des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) zu berücksichtigen ist [...].

Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft ist auch „seit langer Zeit“ nicht möglich.

Anknüpfungspunkt für die Dauer der Trennung ist nach der Gesetzesbegründung in der Regel das Stellen des Asylantrags durch den im Bundesgebiet lebenden subsidiär Schutzberechtigten [...]. In Fällen, in denen die Ehe erst nach Einreise des subsidiär Schutzberechtigten nach Deutschland geschlossen wurde, ist stattdessen regelmäßig auf den Zeitpunkt der Eheschließung abzustellen [...]. Ab diesem Zeitpunkt besteht ein von Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Interesse daran, die familiäre Lebensgemeinschaft herzustellen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Trennungszeit hier die Bestätigung der Eheschließung mit Beschluss des Scharia-Gerichts am 26. März 2019 und damit von einer Trennungszeit von etwa vier Jahren und neun Monaten auszugehen. [...]

Für die Klägerin zu 2 geht es damit unter anderem um die Frage, ob bzw. ab wann sie mit einem Alltag präsenten Vater aufwachsen kann. Dass die Betroffenheit eines minderjährigen ledigen Kindes im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG voraussetzt, dass es sich um ein leibliches und/oder rechtliches Kind des subsidiär schutzberechtigten Stammberechtigten handelt, zu dem der Nachzug erfolgen soll, ist nicht anzunehmen. Hiergegen sprechen der Wortlaut der Regelung sowie der Umstand, dass dadurch gerade auch Kindeswohlinteressen gewahrt werden sollen [...]. Anhaltspunkte dafür, dass nur Interessen leiblicher und/oder rechtlicher Kinder des subsidiär Schutzberechtigten Berücksichtigung finden sollen, enthält die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 23 f.) nicht; ihr Verweis auf das Übereinkommen über die Rechte des Kindes spricht dagegen.

c. Der Visumserteilung an die Klägerin zu 1 bzw. ihrer Beteiligung am Auswahlverfahren steht der Ausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG nicht entgegen. Zwar kann nicht festgestellt werden, dass die Ehe bereits vor der Flucht geschlossen wurde. Es liegt aber eine Ausnahme von der Regel vor, dass die Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in diesem Fall ausgeschlossen ist. [...]

Im Einklang mit diesen verfassungs- und völkerrechtlichen Maßstäben ist für die Beantwortung der Frage, ob die aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Berücksichtigungspflicht es im Einzelfall gebietet, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, von maßgeblicher Bedeutung, ob den Eheleuten erstens eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar und ob ihnen zweitens eine Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug begehrenden Ehegatten möglich und zumutbar ist. Ist den Ehegatten eine (Wieder-)Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß. Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf absehbare Zeit aus, gewinnen die humanitären Belange an der Wiederherstellung der Familieneinheit gerade im Bundesgebiet erhebliches Gewicht. Mit zunehmender Trennungsdauer verringern sich auch die Unterschiede zu den vor der Flucht geschlossenen Ehen und wächst das Gewicht der grundrechtlich geschützten Belange an einer - dann objektiv nur im Bundesgebiet möglichen - Familienzusammenführung. [...]

Vorliegend ist nicht von einer Transitehe auszugehen und die nunmehr achtjährige Klägerin zu 2 ist nicht das Kleinkind des Stammberechtigten. Im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls liegt dennoch eine Ausnahme von der Regel des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vor. Eine solche ergibt sich schon allein aus dem Interesse der Klägerin zu 2 daran, mit dem Beigeladenen zu 2 als ihrem sozialen Vater aufzuwachsen, und der bereits langen Trennungszeit von (jedenfalls) vier Jahren und neun Monaten, welche beide Klägerinnen betrifft. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1 und des Beigeladenen zu 2 ist die Beziehung zwischen beiden vor dem Hintergrund der Situation entstanden, dass die Klägerin zu 1 mit der Geburt ihres ersten Kindes von ihrem ersten Ehemann verlassen wurde und dieser in der Folge den Kontakt zu ihr und zu der Klägerin zu 2 verweigert hat. Der Beigeladene zu 2 ist nicht nur der Ehemann der Klägerin zu 1 geworden, sondern hat auch die Rolle des sozialen Vaters der Klägerin zu 2 übernommen. Er kommt dabei auch für ihren Unterhalt auf, nachdem ihr leiblicher sowie rechtlicher Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Weil die familiäre Lebensgemeinschaft nur in Deutschland hergestellt werden kann, wächst die Klägerin zu 2 dennoch seit ihrer Geburt ohne im Alltag präsenten Vater auf und ist die Klägerin zu 1 alleinerziehend. Diese Situation im Interesse der Schonung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft weiter aufrechtzuerhalten, erscheint als unverhältnismäßige Zurückstellung der von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 der EMRK geschützten Interessen der Klägerinnen. Zu deren Lasten fällt zwar ins Gewicht, dass im Remonstrations- und Klageverfahren mutmaßlich bewusst wahrheitswidrig behauptet wurde, die Ehe sei bereits am 20. August 2015 geschlossen worden. Dies ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aber nicht als so schwerwiegend zu betrachten, dass eine weitere Trennung der Familie als zumutbar erschiene. Insoweit ist darauf zu verweisen, dass der Gesetzgeber dem Wohl minderjähriger lediger Kinder erhebliche Bedeutung zumisst. Wie dargelegt, liegen humanitäre Gründe für einen Familiennachzug nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG stets vor, wenn ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist. [...]

§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 Nr. 1 AufenthG ist zu entnehmen, dass ein Verzicht auf das Vorliegen einfacher deutscher Sprachkenntnisse beim Nachzug zu schutzberechtigten Ausländern – vorbehaltlich anderer Ausnahmen – nur dann erfolgen soll, wenn die Ehe schon bestand, bevor der Ausländer seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt hat (vgl. VG Berlin, Urteil vom 25. Juli 2023 – VG 8 K 311/22 V –, noch nicht rechtskräftig). Dies spricht dafür, bei einer Eheschließung nach Einreise des Stammberechtigten in das Bundesgebiet für eine Ausnahme von § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig deutsche Sprachkenntnisse zu verlangen. [...]

2. Für den Fall des Erfolgs des Visumsbegehrens der Klägerin zu 1 hat die Klägerin zu 2 Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Kindernachzug nach § 6 Abs. 3 Satz 1, 2 in Verbindung mit § 32 Abs. 1 AufenthG. [...]