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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.10.2024 - 10 LA 120/23 - asyl.net: M32842
https://www.asyl.net/rsdb/m32842
Leitsatz:

Zulassung der Berufung zu den Aufnahmebedingungen in Frankreich: 

Die Berufung des BAMF wurde vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Klärung der Frage, ob in Frankreich systemische Schwachstellen im Asylverfahren oder den Aufnahmebedingungen bestehen, zugelassen. Insbesondere werde den besonderen Bedürfnissen vulnerabler Personen in Frankreich zuerst Rechnung getragen, so dass diese Personengruppen nicht von Obdachlosigkeit bedroht seien. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Frankreich, systemische Mängel, besonders schutzbedürftig, alleinerziehend, Berufungszulassungsantrag, Berufung,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) hat Erfolg. [...]

Sie hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

"ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Frankreich systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GRCh (bzw. Art. 3 EMRK) zum Zeitpunkt der Überstellung und während des Asylverfahrens mit sich bringen,

ob Antragstellern, welche in Frankreich internationalen Schutz erhalten haben, eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK insbesondere durch Obdachlosigkeit droht

ob dies für vulnerable Personengruppen, wie Familien oder alleinerziehende Elternteile mit minderjährigen Kindern der Fall ist"?

Im Rahmen der Begründung ihres Zulassungsantrags hat die Beklagte jedenfalls die grundsätzliche Bedeutung der vorliegend entscheidungserheblichen Frage, ob alleinerziehenden Elternteilen mit minderjährigen Kindern als vulnerable Personengruppe in Frankreich während des Asylverfahrens oder nach ihrer Anerkennung als schutzberechtigt die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh insbesondere durch Obdachlosigkeit droht, hinreichend dargelegt.

Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung, der Klägerin drohe als alleinerziehende Mutter eines siebenjährigen Kindes bei einer Rückkehr nach Frankreich im Zeitraum zwischen ihrer Rückführung und der förmlichen Asylantragstellung sowie nach dem Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung (S. 6 UA), darauf gestützt, dass für sie dort die Gefahr der Obdachlosigkeit bestehe. Nach dem AIDA Country Report France 2021 Update reichten die Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden in den vergangenen Jahren trotz anhaltender Bemühungen Frankreichs fortlaufend nicht aus, so dass auch bei vorhandenen regulären oder Notunterkünften praktisch viele Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit betroffen seien. In 2021 hätten Schätzungen zufolge etwa 70.000 Asylsuchende in Frankreich nicht untergebracht werden können, von den Anspruchsberechtigten seien effektiv 59 % tatsächlich untergekommen. Dies gelte nach dem AIDA Country Report France 2022 Update auch für das Jahr 2022. Dass die Klägerin aus eigener Kraft für sich selbst und ihre Tochter sorgen könne, begegne erheblichen Bedenken. Das Risiko einer Obdachlosigkeit könne für vulnerable Personen, wie es die Klägerin und ihre Tochter seien, nicht hingenommen werden (S. 7 UA).

Die Beklagte hat demgegenüber unter Bezugnahme auf den AIDA Country Report 2022 Update ausgeführt, dass gerade den besonderen Bedürfnissen vulnerabler Personen auch in Fragen der Unterbringung bei eingeschränkten Kapazitäten zuerst Rechnung getragen werde und Hinweise darauf, dass auch vulnerable Personen von Obdachlosigkeit betroffen sein könnten, nicht ersichtlich seien [...]. Für vulnerable Personengruppen seien Mechanismen zum frühzeitigen Erkennen des besonderen Schutzbedarfs mit der anschließenden bedürfnisgerechten Unterbringung eingerichtet worden, die gerade im Fall von Dublin-Rückkehrern zuverlässig vor dem Eintritt von Notsituationen schützen würden [...]. Nach der Gewährung eines Schutzstatus könnten die Schutzberechtigten bis zu 6 Monate in der ursprünglichen Unterkunft verbleiben. Sie müssten zudem einen Integrationsvertrag schließen, in dessen Rahmen die Möglichkeit für eine temporäre Unterbringung bis 12 Monate bestehe. Darüber hinaus böten auch Nichtregierungsorganisationen eine temporäre Unterbringung für Schutzberechtigte an.

Damit hat die Beklagte substantiiert dargetan, warum die vorliegend entscheidungserhebliche Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte. Da das Verwaltungsgericht weder auf die konkrete Unterbringungssituation für vulnerable Personengruppen noch für anerkannte Schutzberechtigte (hinreichend) eingegangen ist und damit eine beachtliche Gefahr der Obdachlosigkeit für vulnerable Schutzsuchende und Schutzberechtigte aus den Entscheidungsgründen nicht hervorgeht, konnte von der Beklagten auch keine weitere Durchdringung der und Auseinandersetzung mit den (erkennbar unzureichenden) Erwägungen des Verwaltungsgerichts erwartet werden. [...]