Reiseausweis für staatenlose Palästinenser aus Syrien:
Palästinenser sind staatenlos im Sinne des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk und haben (soweit keine Ausnahmen vorliegen) Anspruch auf Ausstellung eines Reisepasses für Staatenlose. Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang und der Entstehungsgeschichte des Staatenlosenübereinkommens. Es kommt weder eine Rückkehr nach Syrien in das Einsatzgebiet des UNRWA noch eine Ausreise in ein anderes Operationsgebiet des UNWRA also den Gazastreifen, das Westjordanland, Jordanien oder Libanon in Betracht. Die zum Mandatsgebiet der UNRWA zählenden Nachbarstaaten Syriens haben ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien bereits im Sommer 2015 geschlossen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
I. Die als Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) erhobene Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) ist zulässig, insbesondere bedurfte es der Durchführung eines Vorverfahrens (§ 68 VwGO) gemäß § 75 Satz 1 VwGO nicht.
II. Die Klage ist auch begründet. Die Unterlassung der am 30. Juni 2021 von der Klägerin beantragten Ausstellung eines Reisepasses für Staatenlose ist rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); die Klägerin hat Anspruch auf Ausstellung eines Reisepasses für Staatenlose. [...]
Nach der Legaldefinition des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk ist ein "Staatenloser" im Sinne dieses Übereinkommens eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht. [...]
1. Die Klägerin unterfällt der Legaldefinition des Staatenlosen in Art. 1 Abs. 1 StlÜbk.
Unter Staatenlosen im Sinne dieser Vorschrift sind nur die sogenannten de jure-Staatenlosen zu verstehen, die nach den rechtlichen Regelungen der in Betracht kommenden Staaten keine Staatsangehörigkeit besitzen [...]. Der Nachweis der negativen Tatsache der de jure-Staatenlosigkeit obliegt grundsätzlich dem Betroffenen. Er muss die von ihm behauptete Staatenlosigkeit darlegen und beweisen. Hinreichend nachgewiesen ist die Staatenlosigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass die Staaten, als deren Angehöriger der Betroffene überhaupt in Betracht kommt, ihn nicht als Staatsangehörigen ansehen. [...]
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Palästinenser, soweit sie nicht eine andere Staatsangehörigkeit erworben haben, – wie sich aus dem systematischen Zusammenhang und der Entstehungsgeschichte des Staatenlosenübereinkommens entnehmen lässt – staatenlos im Sinne des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk. Die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. i StlÜbk normierte Anwendungsbereichsausnahme enthält nämlich eine Sonderregelung für Menschen palästinensischer Volkszugehörigkeit, da diese sich in erster Linie auf die von der UNRWA im Nahen Osten betreuten Palästinenser bezieht. Dies setzt jedoch voraus, dass diese Personen Staatenlose im Sinne des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk sind. Zudem haben sich die Vertragsparteien bei Abschluss des Staatenlosenübereinkommens, wie sich aus Abs. 3 der Präambel des Übereinkommens ergibt, von der Erwägung leiten lassen, dass nur diejenigen Staatenlosen, die gleichzeitig Flüchtlinge sind, durch die drei Jahre zuvor vereinbarte Genfer Konvention (GK) erfasst werden und dass diese Konvention auf zahlreiche Staatenlose nicht anwendbar ist. Aus diesem Grunde haben sie den Staatenlosen weitgehend dieselben Vergünstigungen gewährt wie zuvor die Genfer Flüchtlingskonvention den Flüchtlingen. Ebenso haben sie in das Staatenlosenübereinkommen eine mit der Sonderregelung in Art. 1 D GK inhaltlich übereinstimmende Bestimmung aufgenommen, die vornehmlich die durch die UNRWA geschützten palästinensischen Flüchtlinge betrifft. Einer solchen Bestimmung hätte es nicht bedurft, wenn die Palästinenser nicht Staatenlose im Sinne des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk wären [...]
2. Die in Art. 1 Abs. 2 StlÜbk vorgesehenen Anwendungsbereichsausnahmen sind in Bezug auf die Klägerin nicht erfüllt, insbesondere liegen die Voraussetzungen des Buchstaben i dieser Vorschrift nicht vor. Die Klägerin gehört nicht zu den Personen, denen das UNRWA als Organisation der Vereinten Nationen im Sinne dieser Vorschrift gegenwärtig Schutz oder Beistand gewährt. [...]
b) Die Entscheidung der Klägerin, das UNRWA Einsatzgebiet in Syrien zu verlassen, war durch Zwänge begründet, die von ihrem Willen unabhängig waren. [...]
Das Yarmouk-Camp, das mit ca. 148.000 registrierten Flüchtlingen vor Ausbruch des Bürgerkriegs das größte palästinensische Flüchtlingslager in Syrien war, war nämlich in besonderer Weise vom syrischen Bürgerkrieg betroffen. So wurde es etwa vom UN-Generalsekretär Ban Ki Moon als "Todeslager" sowie die Situation dort als "Katastrophe epischen Ausmaßes" bezeichnet. [...]
bb) Der Klägerin stand im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Syrien auch de facto keine Möglichkeit offen, in anderen Teilen des Mandatsgebietes des UNRWA innerhalb oder außerhalb Syriens dessen Schutz in Anspruch zu nehmen.
Nach im Kern übereinstimmender Auskunftsklage haben sowohl Jordanien als auch der Libanon als zum Mandatsgebiet der UNRWA zählende Nachbarstaaten Syriens ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien geschlossen, und zwar bereits vor der im Juli 2015 erfolgten Ausreise der Klägerin aus Syrien [...]
c) Die Klägerin ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unfreiwillig daran gehindert, Schutz und Beistand des UNRWA zu erhalten.
aa) Sie kann nicht nach Syrien in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückkehren, da sie sich dort unfreiwillig in einer sehr unsicheren Lage befinden würde. Das folgt bereits daraus, dass ihr mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 20. September 2016 in Bezug auf ihr Herkunftsland Syrien der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde. [...]
bb) Die Klägerin ist auch unfreiwillig daran gehindert, in einem anderen Operationsgebiet des UNRWA, also im Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien oder Libanon, um Schutz und Beistand des UNRWA nachzusuchen. [...]
3. Die Klägerin hält sich rechtmäßig im Sinne von Art. 28 Satz 1 StlÜbk im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland auf. Rechtmäßiger Aufenthalt im Hoheitsgebiet beinhaltet eine besondere Beziehung des Betroffenen zu dem Vertragsstaat durch eine mit dessen Zustimmung begründete Aufenthaltsverfestigung, wie sie etwa in einer Duldung nicht zu sehen ist [...]. Eine solche Aufenthaltsverfestigung liegt in Bezug auf die Klägerin vor, da diese aufgrund des ihr zuerkannten Schutzstatus als subsidiär Schutzberechtigte Anspruch auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 des Aufenthaltsgesetzes hat [...]
5. An weitere Voraussetzungen ist ein Anspruch der Klägerin auf Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose nicht geknüpft. Insbesondere muss diese nicht zunächst versuchen, von ihrem vormaligen Aufenthaltsstaat, Syrien, einen Reiseausweis für Staatenlose zu erlangen. Für ein solches Erfordernis bietet das Staatenlosenübereinkommen in Bezug auf Staatenlose, die sich – wie die Klägerin – rechtmäßig im Vertragsstaat aufhalten, keine Rechtsgrundlage. Dies lässt sich auch Art. 25 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 StlÜbk im Umkehrschluss entnehmen. Ein derartiger Subsidiaritätsvorbehalt widerspräche zudem auch dem engen historischen und teleologischen Zusammenhang des Staatenlosenübereinkommens mit der Genfer Konvention. [...]