Keine qualifizierte Ablehnung bei drohender Entsendung in den russischen Angriffskrieg:
1. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer hat ein junger Mann mit russischer Staatsangehörigkeit, der geltend macht, sich nicht als Soldat am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beteiligen zu wollen, regelmäßig einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet stehen daher erhebliche rechtliche Zweifel entgegen.
2. Eine Entscheidung der Kammer, ob sie sich der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg anschließt oder ob sie nach erneuter Bewertung der aktuellen Erkenntnislage zu einer abweichenden Überzeugung im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kommt, steht noch aus und ist im Hauptsacheverfahren zu klären.
(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 22. August 2024 – OVG 12 B 17/24 und OVG 12 B 18/24)
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In materieller Hinsicht bestehen erhebliche rechtliche Zweifel an der Annahme der Antragsgegnerin, der Asylantrag des Antragstellers sei im Sinne des § 30 Abs. 1 AsylG (einfach) unbegründet, wobei sich diese Zweifel vor allem auf die Entscheidung der Antragsgegnerin beziehen, dem Antragsteller ohne weitere (vertiefte) Prüfung den Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG abzusprechen [...].
Nach summarischer Prüfung handelt es sich, wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht, beim Antragsteller um einen heute 23-jährigen Mann mit russischer Staatsangehörigkeit, der geltend macht, sich nicht als Soldat am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beteiligen zu wollen. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer hat ein in dieser Situation befindlicher Antragsteller regelmäßig einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG, da er derzeit beachtlich wahrscheinlich eine Einziehung zum Grundwehrdienst in den russischen Streitkräften und die anschließende Entsendung in den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu befürchten hat, was einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG gleichkäme [...]. Diese Rechtsprechung ist auf den Antragsteller anwendbar. In der Russischen Föderation finden jedes Jahr zwei Einberufungskampagnen zum Grundwehrdienst statt; diese starten regelmäßig am 1. April und 1. Oktober jeden Jahres. Da der Antragsteller nach russischem Recht wehrpflichtig ist, könnte er mithin zeitnah, nämlich in der kommenden Frühjahrskampagne zum Grundwehrdienst einberufen werden.
Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in zwei Urteilen vom 22. August 2024 entgegen der zitierten Rechtsprechung der Kammer entschieden, dass es nach Ansicht des Senats an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Entsendung von russischen Grundwehrdienstleistenden in den Ukrainekrieg aktuell fehle und infolgedessen den dortigen Klägern die Zuerkennung subsidiären Schutzes bzw. die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG versagt [...]. Eine Entscheidung der erkennenden Kammer, ob sie sich dieser Bewertung anschließt oder ob sie nach erneuter Bewertung der aktuellen Erkenntnislage zu einer abweichenden Überzeugung im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kommt, steht noch aus. Die gebotene Überprüfung der bisherigen richterlichen Überzeugung hat allerdings nicht im – zumal von dem Einzelrichter zu entscheidenden – Eilverfahren stattzufinden, sondern bedarf der Klärung in einem von der Kammer zu entscheidenden Hauptsacheverfahren. Dies gilt umso mehr, als in diesem Verfahren (neu) zu beurteilen sein wird, inwieweit die Kammer es – auch vor dem Hintergrund der im angefochtenen Bescheid nicht erwähnten Praxis der "Dedowschtschina" – für (weiterhin) beachtlich wahrscheinlich hält, dass derzeit systematisch unzulässiger Zwang auf russische Grundwehrdienstleistende ausgeübt wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten, um dann als solcher in den Ukrainekrieg entsandt zu werden [...]. Ebenso wird vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts anhand der aktuellen Erkenntnisse erneut zu bewerten sein, ob (auch) der wohl unstreitig stattfindende Einsatz von russischen Grundwehrpflichtigen in den von der Russischen Föderation völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebieten (Luhansk, Donezk, Region Cherson, Region Saporischschja, Krim) einerseits und in den an die Ukraine grenzenden russischen Regionen (z.B. Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar) andererseits eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG darstellt. [...]