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VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.09.2024 - 11 B 68/24 - asyl.net: M32822
https://www.asyl.net/rsdb/m32822
Leitsatz:

Erlass einer Sicherungsanordnung bei hinreichenden Anhaltspunkten für Reiseunfähigkeit: 

Ergeben sich aus ärztlichen Bescheinigungen, z.B. aus dem Entlassungsbericht nach einem stationären Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus, Hinweise auf eine Suizidgefahr, so muss vor einer Abschiebung geprüft werden, ob ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis besteht, auch wenn die vorliegenden Bescheinigungen nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Es ist ein amtsärztliches Gutachten einzuholen. Denn es besteht eine Verpflichtung der mit dem Vollzug einer Abschiebung betrauten Stellen, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand des Betroffenen folgende tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Abschiebung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Reisefähigkeit, Reiseunfähigkeit, amtsärztliches Gutachten,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den Antragsteller zu ergreifen, solange sie kein amtsärztliches Gutachten darüber eingeholt hat, ob bei einer Abschiebung des Antragstellers die Gefahr besteht, dass sich sein Gesundheitszustand wesentlich verschlechtert, insbesondere die Gefahr von suizidalen Handlungen besteht, und mit welchen Vorkehrungen eine solche Gefahr abgewendet oder gemindert werden kann. [...]

Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, a) ein amtsärztliches Gutachten zur Feststellung der Reisefähigkeit einzuholen und bis dahin b) von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, hat Erfolg. Der zulässige Antrag ist begründet. [...]

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. [...]

Bei der Beurteilung der rechtlichen Unmöglichkeit sind im vorliegenden Verfahren zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG außer Acht zu lassen. Denn es steht aufgrund der bestandskräftigen Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Februar 2024 fest, dass die vorbezeichneten Abschiebungsverbote im Falle des Antragstellers nicht vorliegen [...]. Die Antragsgegnerin ist an diese Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gemäß § 42 Satz 1 AsylG gebunden, solange diese Bestand hat [...].

Ein rechtliches Abschiebungshindernis ergibt sich aus den von Seiten des Antragstellers geltend gemachten Zweifeln an seiner Reisefähigkeit. [...]

10Von einer Reiseunfähigkeit kann bei psychischen Erkrankungen insbesondere dann ausgegangen werden, wenn im Rahmen der Abschiebung die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung droht, der darüber hinaus auch nicht durch ärztliche Hilfen oder in sonstigen Weise begegnet werden kann oder wenn dem Ausländer unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon sonst konkret eine im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes droht, die allerdings – in Abgrenzung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – nicht wesentlich (erst) durch die Konfrontation des Betroffenen mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat bewirkt werden darf [...].

Es geht folglich nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern. Eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Betroffene unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet [...].

Da bei der Frage der Reisefähigkeit das Grundrecht des Betroffenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) tangiert wird und sich die möglichen Folgen, die bei einer trotz Reiseunfähigkeit durchgeführten Abschiebung entstehen, häufig nicht oder nur schwer rückgängig machen lassen, ist der Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht erst dann geboten, wenn Reiseunfähigkeit des Betroffenen positiv feststeht, sondern bereits dann, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene wegen einer Erkrankung nicht reisefähig ist [...].

Hiervon ausgehend genügen der vorgelegte vorläufige Entlassungsbericht des Psychiatrischen Krankenhauses ... vom ... 2024 und die ärztliche Bescheinigung des Facharztes für Innere Medizin Dr. ... vom ... 2024 nicht diesen Anforderungen. [...]

Ist nach alledem eine die Abschiebung beeinträchtigende Erkrankung nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht und die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit damit nicht widerlegt, kommt eine Aussetzung der Abschiebung regelmäßig nicht in Betracht. Eine Ermittlungspflicht der Ausländerbehörde besteht in diesen Fällen darüber hinausgehend grundsätzlich nicht. Etwas anderes gilt aber dann, wenn konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Diese weiterhin bestehende Verpflichtung ergibt sich aus der Bestimmung des § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG [...].

Daher können die Umstände des Einzelfalls eine amts- oder fachärztliche Begutachtung des Betroffenen erforderlich machen, um festzustellen, ob eine akute Suizidgefahr im von der Ausländerbehörde zu beachtenden Zeitraum besteht und ob bzw. wie dieser wirksam begegnet werden kann. Zu einer solchen amts- oder fachärztlichen Abklärung besteht etwa dann Anlass, wenn substantiiert vorgetragene oder sonst bekannt gewordene Anhaltspunkte für eine Suizidgefahr infolge einer psychischen Erkrankung vorliegen [...].

Es besteht nämlich eine Verpflichtung der mit dem Vollzug einer Abschiebung betrauten Stellen, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand des Betroffenen folgende tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten [...].

Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Betroffenen [...]. Auch den Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Betroffenen an die Behörden des Zielstaats darf die Ausländerbehörde nicht außer Acht lassen [...]. Ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung erforderlich sind und ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, kann erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantwortet werden [...].

Dabei ist von Amts wegen zu prüfen bzw. prüfen zu lassen, ob einer anzunehmenden Reiseunfähigkeit im engeren Sinne durch bestimmte organisatorische Vorkehrungen begegnet werden kann. Im Falle einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne ist zu prüfen, ob eine "vorläufige" bzw. "momentane" Reiseunfähigkeit im Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung noch andauert; ggf. ist von der Abschiebung vorübergehend abzusehen und dem Betroffene eine Duldung zu erteilen [...].

Nach diesen Maßgaben – und den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen [...] – hat der Antragsteller Umstände glaubhaft gemacht, die im vorliegenden Einzelfall eine amts- oder fachärztliche Begutachtung erforderlich machen.

Entsprechendes ergibt sich aus dem vorläufigen Entlassungsbericht des Psychiatrischen Krankenhauses ... vom ... 2024 und der darin getroffenen Diagnosen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Aus den umfangreichen Ausführungen geht hervor, dass der Antragsteller dort vom ... 2024 bis zum … 2024 stationär behandelt wurde. Die Aufnahme erfolgte aufgrund eines rezidivierenden depressiven Syndroms in Form einer schweren depressiven Episode mit andauernder und akuter Suizidalität auf dem Boden einer Traumafolgestörung im Sinne einer komplexen PTBS. Hintergrund seien traumatischen Erfahrungen im Herkunftsland. Die Behandlung des Antragstellers wird als hochkomplex beschrieben. Aus dem Entlassungsbericht geht ferner hervor, dass der Antragsteller in der Vergangenheit mindestens ein weiteres Mal wegen akuter Suizidalität im Rahmen einer stationären Behandlung behandelt wurde. Es ist nach alledem hinreichend ersichtlich, dass der Antragsteller an einer schweren psychiatrischen Erkrankung leidet, im Rahmen derer es zu Suizidalität kommen kann. Zum Entlassungszeitpunkt bestand zwar keine akute Suizidalität, ob diese im Rahmen einer Abschiebung auftreten kann bzw. durch welche Maßnahmen dem begegnet werden kann, ist nach dem zuvor dargestellten Maßstab von der Antragsgegnerin aufzuklären.

Soweit die Antragsgegnerin ausführt, es ließe sich durch eine ausreichende Versorgung mit Medikamenten sicherstellen, dass der Antragsteller sowohl während der Reise als auch in den Tagen und Wochen nach seiner Ankunft seine Medikamente einnehmen könnte, ist aus den der Kammer vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich, dass derartige Maßnahmen tatsächlich ergriffen wurden. [...]