Systemische Mängel im ungarischen Asylsystem:
1. Im Falle einer Überstellung nach Ungarn droht dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine den europäischen Asylstandards widersprechende und damit im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Asylbewerber, die bislang keinen Asylantrag in Ungarn gestellt haben, wird voraussichtlich kein Zugang zum Asylverfahren in Ungarn gewährt werden. Es droht ihnen vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung in das Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag.
2. Dublin-Rückkehrer sind nicht von der Anwendung des sog. Botschaftsverfahrens ausgeschlossen. Es ist zudem offen, wie das Verfahren zur Asylantragstellung bei einer Rücküberstellung praktisch abläuft und bei welchen Stellen Rückkehrende ihren Asylantrag stellen können. Es ist nicht davon auszugehen, dass ungarische Behörden die europarechtlichen Regelungen einhalten werden.
(Leitsätze der Redaktion; andere Ansicht: VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.05.2024 - 22 L 764/24.A - asyl.net: M32459)
[...]
c) Im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung des Gerichts erweist sich die vom Bundesamt nach der Dublin III-Verordnung vorgenommene Bestimmung Ungarns als zuständigen Mitgliedstaat gleichwohl als rechtswidrig. Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 ist eine Überstellung des Klägers nach Ungarn unmöglich. [...]
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der aktuellen Erkenntnisquellen droht dem Kläger im Falle einer Überstellung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens zur Überzeugung des erkennenden Gerichts (S 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine den europäischen Asylstandards widersprechende und damit im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unmenschliche und erniedrigende Behandlung.
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln wird solchen Asylbewerbern voraussichtlich kein Zugang zum Asylverfahren in Ungarn gewährt, die dort bislang keinen Asylantrag gestellt haben. Es droht ihnen vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung in das Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. Art. 33 Abs. 1 GFK enthält das Verbot, einen Flüchtling im Sinne des Art. 1 GFK "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Im Kontext des Refoulement-Verbots des Art. 33 Abs. 1 GFK umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen. [...]
Dementsprechend verpflichtet auch Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 201 1/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.
Der Kläger hat in Ungarn bislang keinen Asylantrag gestellt. Dies wird neben den eigenen Angaben des Klägers auch durch die Angaben der ungarischen Behörden im Schreiben vom 24. Mai 2022 bestätigt. Nach der aktuellen Gesetzeslage in Ungarn werden Personen, die zuvor keinen Asylantrag gestellt haben, wie Asylerstantragsteller behandelt. Wird eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, entsprechend der Dublin III-Verordnung zurückgeführt, müsste sie bei Rückkehr (erstmalig) Asyl beantragen. Die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit indes nicht zu. In Ungarn gilt nach wie vor eine Art Ausnahmezustand, die sog. "Krisensituation wegen Massenimmigration", die durch Regierungserlass maximal sechs Monate für bestimmte Bezirke oder das ganze Land angeordnet werden kann. Erstmalig wurde dieser Ausnahmezustand im März 2016 für das gesamte Staatsgebiet Ungarns erklärt und seither immer wieder verlängert, zuletzt bis einschließlich zum 31. Dezember 2024. Während der "Krisensituation wegen Massenmigration" gelten besondere Regeln für illegal eingereiste und/oder aufhältige Drittstaatsangehörige in Ungarn und Asylsuchende. [...]
Damit sind seit Mai/Juni 2020 neue Asylbestimmungen in Ungarn in Kraft, die inzwischen in ein Gesetz (Gesetz LVIII, sog. Transitional Act) übernommen wurden. Diese Asylbestimmungen enthalten u.a. als Kernstück das sogenannte "Botschaftsverfahren". Diesem zufolge müssen Personen, die in Ungarn Asyl suchen, zunächst zwingend persönlich eine ohne Dolmetscher oder Rechts-beistand auf Englisch oder Ungarisch auszufüllende "Absichtserklärung" ("Declaration of intent" - Dol) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine abgeben. Mit Ausnahme weniger Fallgruppen (siehe dazu weiter unten) müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, nach diesem neuen System im Einzelnen folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:
- Persönliche Einreichung eines "Dol" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine.
- Weiterleitung des "Dol" an die Asylbehörde NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), die es innerhalb von 60 Tagen prüft.
- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.
- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.
- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.
- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.
Im Falle der Genehmigung des "Dol" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen. In der Phase des "Botschaftsverfahrens" haben Antragsteller keinen Anspruch auf Einhaltung der in der Richtlinie 2013/33/EU (sog. Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest-)Bedingungen für die Aufnahme Asylsuchender und sie genießen keinen Schutz. In der Folge bedeutet dies, dass sie z.B. von den serbischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden können.
Ausgenommen von der Anwendung des "Botschaftsverfahrens" sind nur folgende Fallgruppen:
1 Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn auf-halten,
2 Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten und
3 Häftlinge, die nicht auf illegale Weise eingereist sind.
Dublin-Rückkehrer unterfallen nicht diesen Ausnahmetatbeständen, bei deren Vorliegen innerhalb des ungarischen Hoheitsgebiets Asyl beantragt werden darf. [...]
Auch der Verweis des Bundesamtes in dem streitgegenständlichen Bescheid auf die Stellungnahme des NDGAP gegenüber dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office - EASO -, heute: EUAA) führt zu keinem anderen Ergebnis. Das NDGAP hat gegenüber EASO im Bericht von 2021 angegeben, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, nachdem diese bei ihrer Ankunft ihre Absicht für die Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärt hätten. Dieser Stellungnahme lassen sich jedoch keine konkreten Aus-sagen zum Ablauf des Verfahrens nach Rückkehr der Betroffenen entnehmen. Vielmehr bestätigt sie zunächst, dass die gesetzlichen Tatbestände, in denen abweichend vom Botschaftsverfahren eine Asylantragstellung in Ungarn direkt möglich sein soll, Dublin-Rückkehrende nicht erfassen. Darüber hinaus bleibt völlig offen, wie das Verfahren nach erfolgter Überstellung in der Praxis weitergeführt wird; insbesondere verhält sich die Stellungnahme nicht zu den näheren Umständen der geforderten "Absichtserklärung" oder bei welcher Stelle die Dublin-Rückkehrer ihren Asylantrag stellen könnten. Es kann schließlich nicht davon ausgegangen werden, dass ungarische Behörden die für sie geltenden Gesetze nicht anwenden. [...]