Zusammenhang zwischen Vernichtung von Papieren und Identitätsklärung:
1. Das Wegwerfen oder Vernichten von Reisepässen kann nur dann eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet rechtfertigen, wenn dadurch die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit behindert wird. Voraussetzung sind also zum einen Zweifel an der Staatsangehörigkeit oder Identität und zum anderen, dass das Dokument eine zum Tragen kommende Bedeutung für die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit gehabt hätte.
2. Darüberhinausgehende Fälle, wie sie in § 30 Abs. 3 Nr. 2 und 5 AsylG a.F. geregelt waren, finden unter der Vorschrift keine Anwendung mehr, denn die Vorgängerregelung war nicht unionsrechtskonform.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen.
Die Regelung wurde durch Art. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21. Februar 2024 [...], in Kraft getreten am 27. Februar 2024, eingeführt. Sie soll nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 24. November 2023 Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU [...] (Asylverfahrensrichtlinie) umsetzen und die nach bisheriger Rechtslage in § 30 Abs. 1 (wohl: Abs. 3) Nr. 2 und 5 AsylG geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit, durch Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments erfassen [...], wohl weil die Vorgängerfassung der "Offensichtlichkeitstatbestände" in § 30 Abs. 3 AsylG keine unionsrechtskonforme Umsetzung des Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU waren [...].
Schon dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nach, der insoweit dem Wortlaut der hierdurch umgesetzten Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 Buchst. d RL 2013/32/EU entspricht, knüpft § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht lediglich an eine abstrakte Eignung des vernichteten oder beseitigten Identitäts- oder Reisedokuments zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit an. Die gewählte Formulierung bzw. grammatikalische Form, "das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte", spricht dafür, dass § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG eine Fallgestaltung voraussetzt, in der zumindest Zweifel an der Identität oder Staatsangehörigkeit bestehen, eine Feststellung aber mit Hilfe der vernichteten oder beseitigten Dokumente (hypothetisch) möglich gewesen wäre, das Dokument also im Einzelfall tatsächlich eine zum Tragen kommende Bedeutung für die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit gehabt hätte. Stehen Identität und Staatsangehörigkeit auch ohne das vernichtete oder beseitigte Dokument fest (etwa wenn diese durch andere Dokumente sicher erwiesen ist), bleibt dafür kein Raum [...].
Für dieses Verständnis streiten auch andere Sprachfassungen der umgesetzten Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 Buchst. d RL 2013/32/EU:
- In englischer Sprache heißt es: "that would have helped establish his or her identity or nationality."
- In französischer Sprache heißt es: "qui aurait aidé à établir son identité ou sa nationalité."
- In spanischer Sprache heißt es: "que habría contribuido a establecer su identidad o nacionalidad."
Sämtliche der vorgenannten Sprachfassungen haben mit der Verwendung von Formulierungen wie "geholfen hätte", "ermöglicht hätte" oder "beigetragen hätte" gemein, dass das Dokument, wäre es nicht beseitigt oder zerstört worden, (hypothetisch) einen – wie auch immer gearteten – Beitrag für die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit geleistet hätte. Bestehen aber keine Zweifel an der Identität und Staatsangehörigkeit, bleibt kein Raum mehr für einen solchen (hypothetischen) Beitrag.
Auch nach dem vom Gesetzgeber ausgegebenen Zweck sowie der Gesetzgebungshistorie – Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 Buchst. d RL 2013/32/EU umzusetzen und die nach bisheriger Rechtslage in § 30 Abs. 1 (wohl: Abs. 3) Nr. 2 und 5 AsylG geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit, durch Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu erfassen – ist der Anknüpfungspunkt für eine Sanktionierung des Antragstellers im Wege einer Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG die tatsächlich eingetretene Erschwerung der Feststellung der Identität und/oder der Staatsangehörigkeit [...]. Dass die nach bisheriger Rechtslage in § 30 Abs. 1 (wohl: Abs. 3) Nr. 2 und 5 AsylG geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit, durch Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments ausweislich der Gesetzesbegründung nur "erfasst" werden sollten, lässt vor dem Hintergrund, dass die Vorgängerfassung der "Offensichtlichkeitstatbestände" des § 30 Abs. 3 AsylG keine unionsrechtskonforme Umsetzung des Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU waren, gerade auch nicht den Schluss zu, dass der Tatbestand des jetzigen § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG über seinen Wortlaut hinaus weitere Fälle erfassen sollte. [...]