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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 04.10.2024 - C-608/22, C-609/22 - AH und FN gg. Österreich - asyl.net: M32737
https://www.asyl.net/rsdb/m32737
Leitsatz:

Diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen in Afghanistan sind als Verfolgung zu bewerten: 

1. Die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Berufstätigkeit, sportliche Betätigung, Bewegungsfreiheit und die Freiheit, sich zu kleiden, einschränken, erreichen in ihrer Gesamtheit, aufgrund ihrer Intensität und der Folgen, die sie für Frauen haben, den für eine Verfolgung erforderlichen Schweregrad. 

2. Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen und nach Art. 3 EMRK verboten sind, sind bereits für sich genommen als Verfolgung einzustufen. 

3. Diese Maßnahmen führen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht. 

4. Unter diesen Umständen ist es bei Anträgen auf internationalen Schutz derzeit nicht erforderlich, spezifische Verfolgungshandlungen festzustellen, soweit die afghanische Staatsangehörigkeit und das Geschlecht bewiesen sind. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Kumulierung, Diskriminierung,
Normen: RL 2011/95 Art. 9 Abs. 1 Bst. b, RL 2011/95 Art. 4 Abs. 3, EMRK Art. 4, EMRK Art. 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4b, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff "Verfolgungshandlung" eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem "Akteur, von dem Verfolgung ausgeht", im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen und der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen. [...]

42 Im vorliegenden Fall besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge im Wesentlichen hervorhebt, kein Zweifel daran, dass unabhängig von den Repressionen, denen afghanische Frauen ausgesetzt sind, wenn sie die vom Taliban-Regime erlassenen Vorschriften – die für sich genommen bereits eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 darstellen können – nicht befolgen, die vom vorlegenden Gericht angeführten diskriminierenden Maßnahmen sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffene Frau haben, den erforderlichen Schweregrad erreichen.

43 Zum einen sind einige dieser Maßnahmen für sich genommen als "Verfolgung" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 einzustufen. Dies gilt insbesondere für die Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen, die nach Art. 3 EMRK verboten sind.

44 Wenn man zum anderen annimmt, dass die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, für sich genommen keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen, beeinträchtigen diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Weise, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darzustellen. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 bis 58 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, führen diese Maßnahmen nämlich aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird. [...]

46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff "Verfolgungshandlung" eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem "Akteur, von dem Verfolgung ausgeht", im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.

47 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständige nationale Behörde verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. [...]

56 Im vorliegenden Fall kommt die EUAA in Punkt 3.15 ihres Berichts "Country Guidance: Afghanistan" aus dem Januar 2023 zu dem Schluss, dass für afghanische Frauen und junge Mädchen angesichts der vom Taliban-Regime seit dem Jahr 2021 ergriffenen Maßnahmen im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95 bestehe. Auch weist das UNHCR im Kontext der vorliegenden Rechtssache in seiner am 25. Mai 2023 abgegebenen Erklärung zum Begriff der Verfolgung aufgrund einer Kumulierung von Maßnahmen im Hinblick auf die aktuelle Situation von Frauen und jungen Mädchen in Afghanistan darauf hin, dass bei afghanischen Frauen und jungen Mädchen wegen der von den Taliban allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie begangenen Verfolgungshandlungen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe.

57 Unter diesen Umständen können die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.

58 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. [...]