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VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 09.09.2024 - 11 L 17/24 - asyl.net: M32726
https://www.asyl.net/rsdb/m32726
Leitsatz:

Abschiebung wegen Gefahr für die Sicherheit trotz aufschiebender Wirkung der Klage

1. Eine Abschiebung ist trotz aufschiebender Wirkung der Klage gegen den ablehnenden Asylbescheid gem. § 60 Abs. 9 AufenthG möglich, da diese Norm auch während des Klageverfahrens Anwendung findet.

2. Für die Prüfung, ob die betroffene Person i.S.d. § 60 Abs. 8 AufenthG aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist, sodass § 60 Abs. 9 AufenthG angewendet werden kann, ist allein die Ausländerbehörde zuständig.

3. Die Prüfung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegt, sodass gemäß § 60 Abs. 9  Satz 2 AufenthG von der Abschiebung abzusehen ist, obliegt ebenfalls allein der Ausländerbehörde.

4. Das Gericht ist nicht gem. § 42 Abs. 1 S. 1 AsylG an die Feststellung des BAMF, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt, gebunden, da die Entscheidung des BAMF auf Grund der erhobenen Klage in ihrer Gesamtheit nicht sofort vollziehbar ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylantrag, gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung, Gefahr für die Sicherheit, Ausweisung, terroristische Vereinigung, Unterstützung, Ausweisung, Abschiebung, aufschiebende Wirkung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 9; AufenthG § 60 Abs. 8; AufenthG § 60 Abs. 7, AsyllG § 42
Auszüge:

[...]

Dem Erlass der Abschiebungsandrohung steht ferner nicht entgegen, dass das Asylverfahren des Antragstellers noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.

Denn im Falle des Antragstellers ist die Abschiebungsandrohung trotz des laufenden Asylverfahrens ausnahmsweise nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG zulässig.

Danach kann in den Fällen des § 60 Abs. 8 AufenthG einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden.

§ 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG ist auf die vorliegende Konstellation anwendbar. Denn der Antragsteller ist im Sinne dieser Vorschrift ein "Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat". Dass der Asylantrag des Antragstellers bereits mit Bescheid des BAMF vom 3. Januar 2023 als "einfach unbegründet" abgelehnt und dem Antragsteller dort die Abschiebung angedroht wurde, ändert hieran nichts, weil diese Ablehnung infolge des laufenden asylgerichtlichen Verfahrens noch nicht bestandskräftig ist und die Klage hiergegen insgesamt aufschiebende Wirkung hat (§ 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG).

Soweit in der Literatur diesbezüglich ausgeführt wird, dass § 60 Abs. 9 AufenthG voraussetze, dass ein Asylantrag wirksam gestellt und darüber noch nicht "endgültig" positiv oder negativ entschieden wurde, weil mit der Bescheidung des Antrages der Antragstellerstatus ende und der Antragsteller damit entweder zum anerkannten Asylberechtigten oder aber zum abgelehnten Asylbewerber werde (so Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 285; ebenso wohl Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 01.07.2020) Rn. 58 ("abschließend")), kann dies nur so verstanden werden, dass mit der "endgültigen" Entscheidung eine bestandskräftige Entscheidung des BAMF gemeint ist, in deren Folge die Aufenthaltsgestattung erlischt (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG), bzw. dass § 60 Abs. 9 AufenthG solange Anwendung findet, wie dem Ausländer nach den Vorschriften des AsylG eine Aufenthaltsgestattung zusteht (Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 1. März 2020) Rn. 161; ebenso wohl auch zum zeitlichen Anwendungsbereich Bender/Bethke/Dorn, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 67 AsylG Rn. 71 f.). [...]

Die Antragsgegnerin ist für die Prüfung, ob ein Fall des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegt, sachlich zuständig.

Soweit in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten wird, dass die Prüfung insoweit allein dem BAMF obliege (Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 60 AufenthG Rn. 79; Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 01.07.2020) Rn. 58), folgt das Gericht dem nicht. Denn die Vorschrift in § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG regelt gerade die Befugnis der Ausländerbehörde, trotz laufenden Asylverfahrens eine Abschiebungsandrohung zu erlassen. Insoweit wird die grundsätzlich ausschließliche Kompetenz des BAMF, mit der Entscheidung über den Asylantrag auch die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG zu prüfen, im Rahmen von § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG durchbrochen ("abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes"). Dies führt in der Konsequenz dazu, dass auch die Prüfung des Vorliegens eines Falles des § 60 Abs. 8 AufenthG im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG allein durch die Ausländerbehörde zu erfolgen hat (wie hier Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 290; Funke-Kaiser, in: ders., GK-AsylG, § 69 (Stand: 01.08.2023) Rn. 35). [...]

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 oder 5 AufenthG – diese Vorschriften finden nach § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG auch im Falle der Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG Anwendung – besteht nicht.

Das Gericht ist dabei an die Feststellung des BAMF in dem Bescheid vom 3. Januar 2023, wonach Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AsylG nicht vorliegen, im vorliegenden Verfahren nicht gebunden. Dem steht nicht entgegen, dass nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine Bindungswirkung für die Ausländerbehörde besteht hinsichtlich der Entscheidung des BAMF über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG und es für diese Bindungswirkung grundsätzlich nicht auf die Bestandsoder Rechtskraft der Entscheidung ankommt (dazu Diesterhöft, in: HTK-AuslR, § 42 AsylG (Stand: 16.01.2023) Rn. 8 ff.).

Denn Voraussetzung der Bindungswirkung nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist im Falle einer noch nicht bestandskräftigen Entscheidung weiterhin, dass diese sofort vollziehbar ist und damit selbst im Falle ihrer Anfechtung jedenfalls vorläufig als verbindlich gilt (VGH B-W, Beschluss vom 30. August 2023 – 12 S 1394/23 –, juris).

Dies ist hier jedoch, wie oben bereits dargestellt, nicht der Fall, weil die asylgerichtliche Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des BAMF vom ... 2023 insgesamt aufschiebende Wirkung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG hat.

Auch im Übrigen obliegt die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gemäß § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG der Ausländerbehörde und nicht dem BAMF. Dies gilt namentlich auch für die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote. Sofern in der Literatur wiederum teilweise die Auffassung vertreten wird, dass die Prüfung auch insoweit dem BAMF obliege (Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 1. März 2020) Rn. 16), vermag auch dies nicht zu überzeugen. Denn auch insoweit gilt, dass im zeitlichen Anwendungsbereich des § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG eine (Zwischen-)Entscheidung des BAMF über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG weder nach dem AsylG noch nach dem AufenthG vorgesehen ist (wie hier wohl auch Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 290).

Auf eine etwaig unterbliebene Beteiligung des BAMF nach § 72 Abs. 2 AufenthG kommt es, wie schon oben dargelegt, im vorliegenden Verfahren nicht an, da sich der Antragsteller hierauf nicht zu seinem Schutz berufen kann. [...]