Durchentscheiden bei Folgeantrag nach Rechtsprechungsänderung
1. Gegen die Ablehnung eines Asylfolgeantrags als unzulässig ist anstelle der regelmäßig statthaften Anfechtungsklage die Verpflichtungsklage statthaft, wenn der Kläger auf die für das Verfahren beim Bundesamt geltenden Verfahrensgarantien verzichtet.
2. Bei Verzicht auf diese Verfahrensgarantien kann das Gericht in der mündlichen Verhandlung die erforderliche Anhörung des Klägers vornehmen und über die Begründetheit des Folgeantrags (durch) entscheiden.
3. Der Folgeantrag ist zulässig, da das Urteil des EuGH vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016, ein neues Element im Sinne des § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG darstellt. Laut diesem Urteil ist (widerleglich) zu vermuten, dass eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung an einen Verfolgungsgrund i.S.d. Art. 10 RL 2011/95/EU anknüpft, wenn im Rahmen des Wehrdiensts der Einsatz in einem Konflikt droht, in dem völkerrechtswidrige Handlungen begangen werden.
4. Syrischen Wehrdienstverweigerern ist im Sinne dieser Vermutung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
(Leitsätze der Redaktion. LS 1 bis 3 unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 08.02.2024 - C-216/22 - A.A. gg. Deutschland - asyl.net: M32160. Die Sprungrevision wurde im Hinblick auf die LS 1 und 2 zugelassen.)
[...]
18 1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage statthaft (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) und auch sonst zulässig.
19 Statthafte Klageart ist vorliegend, ausgehend vom Rechtsschutzziel des Klägers (§§ 88, 86 VwGO), die Flüchtlingseigenschaft im Wege seines Folgeantrages zuerkannt zu erhalten, die Verpflichtungsklage. Im Allgemeinen ist eine – wie hier – Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG mit der Anfechtungsklage anzugreifen (BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, ZAR 2017, 236 Rn. 16 ff.). Bei stattgebender Gerichtsentscheidung hat hierauf das Bundesamt das Asylverfahren fortzuführen und selbst eine Sachentscheidung zu treffen. Wegen der herausgehobenen Stellung des behördlichen Asylverfahrens ist die Anfechtungsklage nicht wegen des Vorrangs der Verpflichtungsklage unzulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, ZAR 2017, 236 Rn. 17 ff.; zur früheren Rechtsprechung: BVerwG, Beschluss vom 08.12.2000 – 9 B 426.00 –, juris; BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 – 9 C 28.97 –, juris).
20 Hiernach ist vorliegend trotz der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG die Verpflichtungsklage statthaft, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf seine Verfahrensgarantien für das behördliche Verfahren – vgl. Art. 14, 15 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU – verzichtet hat (Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 471). Die gesetzlich hervorgehobene Sonderstellung des behördlichen Asylverfahrens rechtfertigt es daher vorliegend nicht, den Kläger auf die Anfechtungsklage zu beschränken und ggf. an das Bundesamt zurückzuverweisen. Auch Unionsrecht steht dem "Durchentscheiden" im Wege der Verpflichtungsklage vorliegend nicht entgegen. Art. 46 Abs. 1 lit. a Ziff. ii RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) erlaubt es den Mitgliedstaaten, ihre Gerichte zu ermächtigen, selbst in der Sache über einen Folgeantrag zu entscheiden, wenn sie eine Entscheidung aufheben, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird (EuGH, Urteil vom 28.02.2024 – C-216/22 –, MigRI 2024, 107, 111 Rn 67). Art. 46 Abs. 1 lit. a Ziff. ii RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) verlangt dies jedoch nicht (EuGH, Urteil vom 28.02.2024 – C-216/22 –, MigRI 2024, 107, 111 Rn 67).
21 § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO macht von dieser Möglichkeit Gebrauch und enthält – wie hier bei gebundenen Entscheidungen – die Verpflichtung des Gerichts, Spruchreife herzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.11.2014 – 7 C 12.13 –, NVwZ 2015, 675, 679 Rn. 47). Die Einhaltung der für das behördliche Verfahren beim Bundesamt geltenden Verfahrensgarantien (vgl. Art. 14, 15 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU) hindert das Gericht nicht, Spruchreife herzustellen, wenn es den Kläger in der mündlichen Verhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers anhört und er auf die Einhaltung der übrigen Verfahrensgarantien (u.a. Vertraulichkeit, Anhörung durch Person gleichen Geschlechts, vgl. Art. 15 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU) verzichtet. Da selbst ein Verzicht auf die persönliche Anhörung als Ganzes möglich ist (Art 14 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a RL 2013/32/EU, vgl. EuGH, Urteil vom 28.02.2024 – C-216/22 –, MigRI 2024, 107, 111 Rn 66), ist ein solcher Verzicht erst recht möglich für Verfahrensgarantien, die lediglich Modalitäten der Durchführung der persönlichen Anhörung betreffen. Der Beschleunigungsgrundsatz spricht ebenfalls für das Durchentscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 – 9 C 28.97 –, juris Rn. 13). Im vorliegenden Fall sind zwischen Stellung des Folgeantrags und der letzten mündlichen Verhandlung bereits über 3 Jahre vergangen. Das erkennende Gericht berücksichtigt die herausgehobene Stellung des behördlichen Asylverfahrens, es sieht aber auch, dass die Prüfungsbefugnisse der Entscheider des Bundesamtes durch Herkunftsländerleitlinien beschränkt sind und die Identität von anhörendem Sachbearbeiter und Entscheider nicht gewährleistet ist. Es besteht daher keine Garantie, dass bei einem weiteren behördlichen Verfahren alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung finden. Hinzu kommt, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten vom Gericht dahin verstanden wurde, dass eine neuerliche behördliche Prüfung des Folgeantrags unter Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu keinem positiven Ergebnis führen könne. [...]
23 a. Der Folgeantrag ist zulässig. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen vor (§ 71 Abs. 1 S. 1 AsylG), der Kläger hat deshalb einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. [...]
25 Auch neue rechtliche Umstände können einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens begründen, wenn sie mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen. § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG setzt Art. 33 Abs. 2 lit. d RL 2013/32/EU um. Unter die Begriffe "neuer Umstand" bzw. "neues Element" fällt deshalb auch ein Urteil des EuGH, und zwar unabhängig davon, ob dieses Urteil vor oder nach dem Erlass der Entscheidung über den früheren Antrag ergangen ist oder ob in diesem Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, auf die diese Entscheidung gestützt war, mit dem Unionsrecht festgestellt wird oder es sich auf die Auslegung des Unionsrechts einschließlich desjenigen, das beim Erlass dieser Entscheidung bereits in Kraft war, beschränkt (EuGH, Urteil vom 28.02.2024 – C-216/22 –, MigRI 2024, 107, 108 Rn 40 f.). [...]
26 Gemessen daran bestehen vorliegend neue Elemente, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung beitragen. Dies folgt aus dem Urteil des EuGH vom 19.11.2020, C-238/19 ("EZ"), das nach dem Bescheid des Bundesamtes vom 16.08.2017 ergangen ist. Mit dem Urteil hat der EuGH die (widerlegliche) Vermutung aufgestellt, dass eine Verknüpfung zwischen der Bestrafung für eine Wehrdienstverweigerung und einem der Verfolgungsgründe aus Art. 10 RL 2011/95/EU besteht, wenn die Verweigerung des Militärdienstes unter den Bedingungen von Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU erfolgt. Die Nachprüfung der Plausibilität dieser Vermutung im Einzelfall sei Sache der nationalen Behörden (EuGH, Urteil vom 19.11.2020 – C-238/19 ("EZ") –, ZAR 2021, 84, 86 Rn. 45 ff. und 57). Ein solches Urteil des EuGH ist ein neues Element im Sinne von Art. 33 Abs. 1 lit. d RL 2013/32/EU – damit auch im Sinne von § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG – und zwar unabhängig vom Zeitpunkt seines Erlasses und unabhängig davon, ob zum Zeitpunkt der ersten Asylentscheidung die unionsrechtliche Vorschrift bereits in Kraft war, zu deren Auslegung der EuGH entschieden hat (vgl. EuGH, Urteil vom 28.02.2024 – C-216/22 –, MigRI 2024, 107, 110 Rn 54).
27 Die durch dieses Urteil aufgestellte Vermutung führt vorliegend auch mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung. Ausreichend ist insoweit, dass das neue Element die Wahrscheinlichkeit einer positiveren Entscheidung steigert, ohne dass damit – was der Prüfung der Begründetheit des Folgeantrags vorbehalten ist – zugleich eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine asylrelevante Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden verbunden sein muss (vgl. Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.04.2024, § 71 AsylG Rn. 23). Die Existenz dieser Vermutung macht eine Einzelfallprüfung erforderlich, ob im Fall des Klägers Faktoren vorhanden sind, die eine Verknüpfung zwischen der wegen der Wehrdienstentziehung zu erwartenden Bestrafung und einer ihm hierbei unterstellten oppositionellen Haltung widerlegen können. Die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft anzustellende Prognose unterscheidet sich durch die widerlegliche Vermutung zu Gunsten des Klägers in ihrem Maßstab von der Prognose, die das Bundesamt im Bescheid vom 16.08.2017 angestellt hat. Im Bescheid vom 16.08.2017 traf das Bundesamt noch die Prognose, der Kläger werde bei Rückkehr nach Syrien nicht als Regimefeind angesehen. Es ist von daher möglich, dass die Prognose bei neuerlicher Prüfung für den Kläger günstiger ausfallen kann. Die durch den EuGH aufgestellte Vermutung bewirkt keine – wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung andeutete – Verschärfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, mit der Folge, dass die Vermutung nicht geeignet wäre, zu einer für den Asylbewerber günstigeren Entscheidung führen zu können. Das Gegenteil ist der Fall. Die Vermutung erleichtert zu Gunsten des Asylbewerbers die Feststellung einer Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund. [...]
29 b. Der Folgeantrag ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil er ein Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 und 4 AsylG). In seinem besonders gelagerten Einzelfall liegen nach den Feststellungen des Gerichts gefahrerhöhende Momente vor, sodass ihm seitens des syrischen Regimes anlässlich der zu erwartenden Bestrafung wegen der Wehrdienstentziehung unterstellt werden wird, ein Regimefeind zu sein. [...]
40 bb. Das Gericht würdigt die beschriebene Situation dahingehend, dass der syrische Staat nicht jedem für längere Zeit ausgereisten syrischen Staatsangehörigen, der im Ausland ein Asylverfahren betrieben hat und wieder zurückkehrt, pauschal unterstellt, ein Regimegegner zu sein bzw. in engerer Verbindung mit oppositionellen Kreisen im Exil zu stehen. Die Behandlung von Rückkehrern erfolgt von Seiten des syrischen Staates vielmehr willkürlich, sodass erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aufgrund einer tatsächlichen oder unterstellten regimefeindlichen bzw. oppositionellen Gesinnung begründen (siehe nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.08.2017 – A 11 S 710/17 –, Rn. 42 ff.; Urteil vom 23.10.2018 – A 3 S 791/18 –, Rn. 18 ff.; Urteil vom 27.03.2019 – A 4 S 335/19 –, Rn. 45; Urteil vom 18.08.2021 – A 3 S 271/19 –, Rn. 50; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.03.2020 – 14 A 2778/17.A –, Rn. 33 ff.; BayVGH, Urteil vom 21.09.2020 – 21 B 19.32725 –, Rn. 23 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 22.09.2021 – 5 A 855/19.A –, Rn. 36; alle juris und jeweils m. w. N.). Hierbei ist jedoch in keiner Weise ersichtlich oder vorhersehbar, welche gefahrerhöhenden Erkenntnisse die Befragung durch syrische Dienste und die Ausschöpfung von Quellen in der in Deutschland ansässigen Gemeinschaft durch die syrischen Dienste ergeben. Aus welchen Gründen das syrische Regime die Rückkehrerbefragungen durchführt und ob es dabei jedem Rückkehrer, der sich durch Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen hat, eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt (ohne dass Indizien für dessen regimefeindliche oder kritische Einstellung bestehen), lässt sich anhand der Erkenntnismittellage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht feststellen.
41 cc. Nach diesem Maßstab wird der Kläger, dessen Angaben das Gericht für glaubhaft erachtet und deshalb der Prüfung zugrunde legt (2), bei – hypothetischer – Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohen (3). Es ist anzunehmen, dass ihm das syrische Regime eine – auch tatsächlich bestehende – oppositionelle politische Einstellung unterstellen und ihn gerade deshalb für seine Wehrdienstentziehung bestrafen wird. Das Gericht kann hierbei auch über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheiden, obwohl der Kläger auf seinen Folgeantrag hin bislang nicht persönlich beim Bundesamt angehört worden ist (1).
42 (1) Das Gericht kann auch über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheiden (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO), die Sache ist spruchreif. Es steht der Entscheidung nicht entgegen, dass der Kläger im Verfahren beim Bundesamt bislang nicht persönlich angehört worden ist, denn der Kläger hat hierauf in der mündlichen Verhandlung verzichtet. Er hat sich ferner ausdrücklich mit einer Entscheidung auch über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der Anhörung im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung einverstanden erklärt (Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 471). [...]
48 Bei unterstellter Rückkehr des Klägers nach Syrien ist aufgrund der Erkenntnismittellage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (s.o.) davon auszugehen, dass er einerseits nach der Ankunft der Rückkehrerbefragung durch die syrischen Behörden unterzogen wird, bei der – wie bei jedem Kontakt mit syrischen Stellen – stets auch aufgrund willkürlicher und nicht vorhersehbarer Umstände das Risiko von Folter, Tod, Verschwindenlassen und anderen Formen schwerster Menschenrechtsverletzungen besteht. Andererseits ist aufgrund der Wehrdienstentziehung des Klägers damit zu rechnen, dass er im Anschluss an die Befragung wegen der Wehrdienstentziehung bestraft sowie zum Wehrdienst eingezogen wird, wobei die Einzelheiten der Bestrafung und des späteren Einsatzes im Militär kaum vorhersehbar sind. Nach derzeitigem Erkenntnisstand besteht die wahrscheinlichste Form der Bestrafung in einer kurzzeitigen Inhaftierung mit anschließender Einziehung zum Militär und möglicherweise Einsatz an der Front (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021, S. 132 f.). Strafrechtliche Sanktionen sind aufgrund des Personalbedarfs der syrischen Armee dem gegenüber wohl weniger wahrscheinlich als die kurzfristige Inhaftierung und anschließende (Zwangs-)Einziehung zum Militär mit ungewissem Einsatzort, der auch durchaus an der Front liegen kann (UNHCR, a.a.O.).
49 Das Gericht geht hierbei davon aus, dass der Bürgerkrieg in Syrien nach wie vor maßgeblich dadurch geprägt ist, dass unter anderem die syrische Armee unter Einsatz von Wehrdienstleistenden und Reservisten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, darunter Angriffe auf Zivilisten, zivile Infrastruktur, Schulen, Märkte, auf Mitarbeiter und Hilfsgüter internationaler Organisationen, Folter – auch mittels sexueller Gewalt –, sowie der unterschiedslose Einsatz von Artillerie, Luftangriffen, Brandwaffen, Fassbomben und chemischen Waffen in besiedelten Gebieten (UNHCRErwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021, S. 57 ff.). Das syrische Militär unterscheidet nicht zwischen militärischen Zielen und der Zivilbevölkerung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, Stand: 27.03.2024, S. 105). Ein Militärdienst des Klägers in diesem Konflikt würde vor diesem Hintergrund die Begehung zahlreicher Verbrechen umfassen, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG fallen.
50 Diese zu erwartende Behandlung des Klägers knüpft zur Überzeugung des Gerichts an eine ihm seitens des syrischen Regimes unterstellte, aber auch tatsächlich bestehende oppositionelle Haltung an (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 AsylG). Das Gericht geht mit dem Europäischen Gerichtshof im Ausgangspunkt davon aus, dass eine starke Vermutung dafürspricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Handlungen umfassen würde, die zum Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft führen würden (Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU) mit einem Verfolgungsgrund aus Art. 10 RL 2011/95/EU in Zusammenhang steht (EuGH, Urteil vom 19.11.2020 – C-238/19 –, ZAR 2021, 84, 87 Rn. 57). Die Verweigerung des Militärdienstes unter diesen Umständen trotz schwerer Sanktionen deutet auf einen starken Wertekonflikt bzw. einen Konflikt aufgrund religiöser oder politischer Überzeugungen hin (EuGH, Urteil vom 19.11.2020 – C-238/19 –, ZAR 2021, 84, 87 Rn. 59). Ferner besteht das Risiko, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter diesen Umständen durch das syrische Regime als Akt politischer Opposition ausgelegt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 – C-238/19 –, ZAR 2021, 84, 87 Rn. 60). Es bleibt gleichwohl Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte die Plausibilität der Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nachzuprüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 – C-238/19 –, ZAR 2021, 84, 87 Rn. 56). [...]
54 III. Das Gericht lässt die Sprungrevision zu, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, §§ 134 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. [...]