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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2024 - A 2 K 2161/22 - asyl.net: M32702
https://www.asyl.net/rsdb/m32702
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Infibulation:

Einem Mädchen kann im Irak in der Autonomen Region Kurdistan die Genitalbeschneidung durch ihre Familie drohen. Die Genitalverstümmelung ist zwar mittlerweile auch in Kurdistan verboten, aber immer noch verbreitet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Genitalverstümmelung, Genitalbeschneidung, Infibulation, Flüchtlingsanerkennung, geschlechtsspezifische Verfolgung, FGM
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Insbesondere droht ihr die Gefahr einer Genitalverstümmelung, mithin einer auf ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der unbeschnittenen Frauen abzielende Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG; vgl. BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 - 1 C 29.17 - juris; VG Dresden, Urt. v. 02.03.2021 - 13 K 2665/18.A, juris VG München, Urt. v. 11.03 2020 - M 19 K 16.33362 - juris). Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung ist gerade im kurdischen Norden des Iraks verbreitet. Seit dem Jahr 2011 stellt ein Gesetz in der Autonomen Region Kurdistan die Genitalverstümmelung unter Strafe; gleichwohl wird sie in der Praxis aber weiterhin betrieben, auch wenn ihre Verbreitung sinkt. Ausweislich einer Studie aus dem Jahr 2018 sind in der Provinz Erbil - aus der die Eltern der Klägerin stammen - rund 47% der Frauen beschnitten, in der RKI insgesamt rund 38%. Allerdings wird eine Genitalverstümmelung in jüngeren Generationen seltener durchgeführt. Insgesamt wurde bei 3,2% der Mädchen bis 15 Jahre in der RKI eine Form von Genitalverstümmelung festgestellt (BAMF, Länderanalyse Irak: Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 8; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Irak, 22.08.2022, S. 201/202). [...]

bb) Wenn man an dieser Schilderung Zweifel haben mag, weil sie zu einem großen Teil auf Hörensagen aus Telefongesprächen beruht, ist aber dennoch eine ernstzunehmende Gefährdung durch die Familie der Klägerin mütterlicherseits anzunehmen. Dass in dieser Familie die Beschneidung von Töchtern als religiöse und sittliche Pflicht angesehen wurde, ist schon daran deutlich zu sehen, dass die Mutter der Klägerin selbst beschnitten worden ist, was durch ärztliches Zeugnis belegt ist. Ihre Schilderung, dass die eigene Großmutter diese Beschneidungen durchgeführt habe, ist für das Gericht glaubhaft und lässt ernsthaft befürchten, dass die Großeltern der Klägerin die Beschneidung der Enkelin ebenso befürworten würden wie sie es einst bei ihrer Tochter für richtig gehalten haben. [...]

Als geschiedene und alleinstehende Frau mit mehreren Kindern wäre die Mutter dort aber jedenfalls darauf angewiesen, dass sie von ihren eigenen Eltern wieder aufgenommen und finanziell unterstützt würde; damit wäre sie keineswegs in der Position, einem Drängen der Familie auf eine Beschneidung der Klägerin (und ihrer jüngeren Schwester) Widerstand entgegenzusetzen und sich von der Familie zu distanzieren, wie es ihr bei den älteren Töchtern mit einem Ehemann an der Seite noch möglich gewesen sein mag. [...]