Keine Rückkehr nach Spanien mit pflegebedürftigem Familienmitglied:
1. Grundsätzlich droht anerkannt Schutzberechtigten in Spanien keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK. Anerkannt Schutzberechtigte haben denselben Zugang zu Arbeit, Sozialhilfe, Bildung und Gesundheitsversorgung wie spanische Bürger. Vereinzelte Defizite im Bereich der Unterbringung führen nicht zu einer beachtlich wahrscheinlichen Obdachlosigkeit.
2. Bei einer Familie mit vier minderjährigen Kindern und einem nicht mehr erwerbsfähigen, pflegebedürftigem 78-jährigen Großvater ist nicht davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt durch die Eltern gesichert werden kann. Es wird den Eltern bei einer Rückkehr nach Spanien nicht in absehbarer Zeit gelingen, eine Arbeit zu finden. Sie haben weder besondere Qualifikationen, noch haben sie Sprachkenntnisse; zudem sind beide Analphabeten.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Zunächst ist die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angegriffenen Bescheides rechtswidrig. [...]
Die Unzulässigkeitsentscheidung ist vorliegend aber aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen. [...]
Unter Berücksichtigung des aufgeführten Maßstabes wird die erforderliche hohe Erheblichkeitsschwelle für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel bei einem anerkannten Schutzberechtigten im Fall einer Rückkehr nach Spanien in der Regel nicht erreicht [...].
Sowohl Flüchtlinge als auch Personen mit subsidiären Schutzstatus erhalten in Spanien vorerst eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre. Diese ist verlängerbar und bei der Verlängerung gibt es keine systematischen Probleme [...]. Personen, die internationalen Schutz genießen, genießen in ganz Spanien Freizügigkeit [...]. Alle Antragsteller haben Zugang zum 18-monatigen dreiphasigen Unterbringungs-/Integrationsprozess [...]. Der dreiphasigen Unterbringungs-/Integrationsprozess besteht aus einer Bewertungs- und Zuordnungsphase, die eine Basisversorgung samt Unterbringung beinhaltet, und zwei Unterbringungsphasen. In der ersten Unterbringungsphase erhalten Antragsteller neben temporärer Unterbringung in von NGOs betriebenen Zentren oder humanitären Unterbringungseinrichtungen u.a. soziale Hilfe, kulturelle Grundorientierung, Sprachkurse und Jobtraining, was ihre Integration in die spanische Gesellschaft erleichtern soll, und ein Taschengeld in Höhe von 50 Euro im Monat, plus 20 Euro für jeden abhängigen Minderjährigen. Zusätzlich werden andere persönliche Ausgaben abgedeckt. In der zweiten Unterbringungsphase werden die Nutznießer in private Unterbringung entlassen und erhalten kein Taschengeld mehr, aber die Miete wird übernommen und sie können zusätzliche Mittel zur Deckung der Grundbedürfnisse erhalten, um ein "normales Leben" beginnen zu können [...].
Der Mangel an verfügbarem Sozialwohnraum, die unzureichende finanzielle Unterstützung für die Zahlung der Miete, hohe Anforderungen bei Mietverträgen und Diskriminierung sind für viele Schutzberechtigte problematisch und führen in einigen Fällen zu Armut. Es gibt keine staatliche Stelle, die bei der Suche nach einer Wohnung unterstützt. Obwohl NGOs in dieser Phase versuchen zwischen Flüchtlingen/Asylwerbern und Vermietern zu vermitteln, kommt es zu Fällen von Obdachlosigkeit und Unterbringung in Obdachlosenunterkünften [...].
Zur Bekämpfung der vorgenannten Probleme wurde im Mai 2023 in Spanien ein Gesetz verabschiedet, das darauf abzielt, Gruppen zu unterstützen, die beim Zugang zu Wohnraum erhebliche Probleme haben und die Nutzung von Sozialwohnungen zu fördern [...]. Darüber hinaus wurde Ende 2022 die "TECHO Plattform" ins Leben gerufen, die Asylbewerbern und schutzberechtigten Personen die Möglichkeit bietet, nach Mietwohnungen zu suchen [...].
Schutzberechtigte haben denselben Zugang zum Arbeitsmarkt wie spanische Bürger [...]. Alle Personen im Integrationsprozess erhalten individuelle Unterstützungsprogramme für Ausbildung, Anerkennung von Qualifikationen usw. Nach Abschluss des dreiphasigen Prozesses können die Begünstigten Arbeitsintegrations- und Orientierungsdienste von NGOs in Anspruch nehmen, die mit EU-Mitteln finanziert werden [...]. Viele Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben beim Zugang zum Arbeitsmarkt in der Praxis Probleme aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen oder Qualifikationen bzw. aufgrund von Diskriminierung. Diese Situation wird durch die hohe Arbeitslosigkeit in Spanien noch verschlimmert [...]. Allerdings gibt es in Spanien auch verschieden Programme und Initiativen um die Integration von Flüchtlingen auf dem spanischen Arbeitsmarkt zu fördern, wie z. B. kostenlose Tickets für den öffentlichen Nahverkehr oder Mentoringprogramme [...].
Weiter haben Schutzberechtigten denselben Zugang zur Bildung wie spanische Bürger [...].
Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben Zugang zu Sozialhilfe unter denselben Bedingungen wie spanische Bürger. Das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit ist für die Bereitstellung von Sozialhilfe zuständig und in der Praxis besteht dieser Zugang ohne besondere Hindernisse. Sozialhilfe ist nicht an den Wohnsitz an einem bestimmten Ort gebunden, da sie auf nationaler Ebene verteilt wird [...]. Die auf nationaler Ebene gewährte Sozialhilfe ist in der Regel an Mindestaufenthaltszeiten in Spanien bzw. an Beitragsleistungspflichten geknüpft [...]. So besteht im Falle eines Verlusts der Arbeit etwa ein Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn die betroffene Person zuvor in den letzten sechs Jahren wenigstens 360 Beitragstage aufweisen kann; Arbeitslosenhilfe erhält, wer mindestens für drei Monate (mit Unterhaltsverpflichtungen) bzw. sechs Monate (ohne Unterhaltsverpflichtungen) Beiträge entrichtet hat [...]. Zudem besteht für jeden der in Spanien arbeitet und/oder wohnt für jedes unterhaltsberechtigte (eheliche und uneheliche) Kind unter 18 Jahren ein Anspruch auf Kindergeld, wobei dieser Anspruch oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze eingeschränkt ist und sich die Höhe des Betrags nach dem Alter des Kindes und einer ggfs. bestehenden Behinderung richtet [...]. Darüber hinaus kann die auf nationaler Ebene gewährte Sozialhilfe auch durch regionale Angebote ergänzt werden [...]. Regionale Sozialleistungen werden nur befristet gewährt und sind - je nach der autonomen Gemeinschaft, in der sich der Betreffende aufhält - von unterschiedlichen Voraufenthaltszeiten abhängig [...].
Das spanische Recht sieht für alle anerkannt Schutzberechtigte sowie für spanische Bürger den vollen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem vor, einschließlich Zugang zu spezialisierter Behandlung für Personen, die Folter, schwere körperliche oder seelische Misshandlungen oder Traumatisierung erlitten haben [...].
Unter Berücksichtigung der dargestellten Lage sind zwar gewisse Defizite im spanischen Aufnahmesystem im Bereich der Unterbringung nicht von der Hand zu weisen. Jedoch treten diese Defizite lediglich vereinzelt auf, sodass nicht davon auszugehen ist, dass eine rücküberstellte Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Obdachlosigkeit betroffen sein wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es rücküberstellten schutzberechtigten Personen - vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls - alsbald nach ihrer Rückkehr nach Spanien auch nach Ablauf des Unterbringungs- und Integrationsprozesses durch Eigeninitiative und die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen von Hilfsorganisationen gelingen wird, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
Ausgehend von diesen Feststellungen ist die Einzelrichterin im Falle der Kläger davon überzeugt, dass in ihrem konkreten Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise die Annahme rechtfertigen, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Spanien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht.
Bei der Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Kläger gemeinsam im Familienverband nach Spanien zurückkehren werden, zu welchem auch der 78-jährige Vater des Klägers zu 1) [...] gehört. Zwar gehört der Vater des Klägers zu 1) nicht zu der von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK erfassten Kernfamilie, denn der Schutzbereich des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) grundsätzlich auf den Bereich der eigentlichen Kernfamilie bestehend aus Eltern und minderjährigen Kindern beschränkt. Jedoch genießen Beziehungen zwischen erwachsenen Familienmitgliedern dann den Schutz des Familienlebens, wenn zusätzliche Abhängigkeitsmerkmale vorliegen, die über die normale emotionale Bindung hinausgehen [...]. Insbesondere wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spricht dies dagegen, sie auf die Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Dieses Anliegen respektiert den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Grundsätzlich erweist sich eine Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig [...]. Diese Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall hinsichtlich des Vaters des Klägers zu 1) vor. Denn der Vater des Klägers zu 1) ist in Folge einer Krebsbehandlung, bei welcher ihm ein künstlicher Zugang zur Luftröhre gelegt worden ist, nicht mehr in Lage zu sprechen. Er ist seither bei der Bewältigung seines Alltags - insbesondere bei der Kommunikation beispielsweise bei Arzt- und Behördenbesuchen - auf Unterstützung angewiesen. Hierbei ist der Wunsch des Vaters des Klägers zu 1), dass die Unterstützungsleistungen durch seine Familie erbracht werden sollen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich. Denn zunächst ist der Verlust des Sprechvermögens ein besonders gravierender Autonomieeinschnitt, da die Verständigung durch Sprechen im Alltag den Großteil der Kommunikation ausmacht. Darüber hinaus ist es – schon aufgrund der fremdsprachlichen Barrieren außerhalb des Herkunftslandes, aber auch aufgrund einer gewachsenen Vertrautheit im Familienverband – nachvollziehbar, dass die Unterstützung in diesem Bereich am besten durch enge Familienangehörige erfolgen kann, weil diese die Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Person aufgrund jahrelangen Zusammenlebens besser erkennen können.
Diese Rückkehrprognose zugrunde gelegt, ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass es den Klägern nach einer Rückkehr nach Spanien nicht zeitnah gelingen wird, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Die Kläger werden im Falle ihrer Rückkehr nach Spanien darauf angewiesen sein, dass die Kläger zu 1) und zu 2) eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, um den Lebensunterhalt der übrigen Familie, die aus vier Kindern im Alter von 6 bis 9 Jahren und einem 78-jährigen und offensichtlich nicht mehr erwerbsfähigen Mann besteht, zu sichern. Denn zum einen ist die 18-monatige Integrationsphase in Spanien im Falle der Kläger bereits beendet und zum anderen ist den Klägern darin zuzustimmen, dass sowohl sie als auch der Vater des Klägers zu 1) zumindest unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Spanien keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben werden. Insbesondere das in Spanien gewährte beitragsunabhängige Arbeitslosengeld, die dort gewährte beitragsunabhängige Rente und auch das Grundeinkommen knüpfen – soweit die Einzelrichterin dies überblicken kann – an Voraufenthaltszeiten an, die die Kläger nach ihrer Rückkehr nicht erfüllen werden [...]. Eine Ausnahme hiervor dürfte allenfalls die Zahlung von Kindergeld darstellen [...]. Insgesamt bezweifelt die Einzelrichterin aber, dass es den Klägern zu 1) und zu 2) gelingen wird, auch mit Unterstützung von NGOs in Spanien alsbald nach ihrer Rückkehr eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Für diese Annahme spricht schon, dass es den Klägern zu 1) und zu 2) nach ihren Angaben auch während ihres letzten Aufenthalts in Spanien nicht gelungen ist, trotz Hilfestellung einer NGO eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, weil ihre fehlenden Qualifikationen – insbesondere ihre fehlenden Sprachkenntnisse – bemängelt worden seien. Weiter verfügen die Kläger zu 1) und zu 2) nach ihren Angaben über keine nennenswerte schulische oder berufliche Ausbildung und können weder lesen noch schreiben. [...]