LG Cottbus

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Zitieren als:
LG Cottbus, Beschluss vom 13.09.2024 - 7 T 186/24 - asyl.net: M32696
https://www.asyl.net/rsdb/m32696
Leitsatz:

Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Dublin-Überstellung nach Griechenland: 

1. Die Anordnung von Transitgewahrsam oder Dublin-Überstellungshaft verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn nicht mit einer Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat zu rechnen ist. Es sind keine Umstände erkennbar, die die Annahme rechtfertigen würde, dass Griechenland von der aktuellen Praxis, nur Staatsangehörige der Länder Algerien, Marokko, Bangladesch, Tunesien und Pakistan zurückzunehmen, abweichen würde. Eine Freiheitsentziehung unter diesen Umständen ist nicht verhältnismäßig. 

2. Die Anordnung von Überstellungs- oder Flughafenhaft ist auch dann unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, wenn das BAMF im Rahmen des Dublin III-Verfahrens bei dem Aufnahmegesuch an Griechenland kein Dringlichkeitsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 Dublin III-VO eingeleitet und damit den Beschleunigungsgrundsatz verletzt hat. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Griechenland, Flughafenhaft, Dringlichkeitsverfahren
Normen: VO 604/2013 Art. 21 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, AufenthG § 15 Abs. 6, FamFG § 417
Auszüge:

[...]

2. Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des amtsgerichtlichen Beschlusses vom 26.07.2024 gerichtete Beschwerde des Betroffenen ist begründet. [...]

Im vorliegenden Fall hat die ausweislich des angefochtenen Beschlusses vom 26.07.2024 nach § 15 Abs. 6 AufenthG, § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG, Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO erfolgte Anordnung des Amtsgerichts von Zurückweisungshaft bis zum Ablauf des 04.10.2024 den Betroffenen in seinem Grundrecht nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verletzt, weil zum Zeitpunkt des Erlasses des entsprechenden Beschlusses bereits mit Gewissheit zu erwarten war, dass Griechenland nicht bereit sein würde, den Betroffenen im Rahmen eines Dublin-III-Verfahrens einreisen zu lassen. Die Anordnung des Amtsgerichts war damit unverhältnismäßig, wobei es für die Entscheidung über den Feststellungsantrag nicht darauf ankommt, ob die Vorinstanz diesen Umstand erkennen konnte. [...]

Letztlich kann die Kammer aber offenlassen, welcher Hafttatbestand beantragt und angeordnet wurde, denn beiden Hafttatbeständen ist gemein, dass die Freiheitsentziehung nach allgemeinen verfassungsmäßigen Grundsätzen verhältnismäßig sein muss (vgl. Grotkopp, a.a.O., Rn. 137 mwN.). Im vorliegenden Fall kann die Verhältnismäßigkeit der Anordnung von Freiheitsentziehung bzw. einer dieser gleichstehenden Maßnahme aus mehreren Gründen nicht bejaht werden.

Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist abzuleiten, dass die angeordnete Freiheitsentziehung bzw. eine vergleichbare Anordnung auf die kürzestmögliche Dauer zu beschränken ist. Damit ist der Zeitraum gemeint, in dem unter Berücksichtigung des an die Behörde gerichteten Beschleunigungsgebotes diese die Ab- oder Zurückschiebung bzw. die Überstellung aller Wahrscheinlichkeit nach durchführen kann (vgl. Grotkopp, a.a.O., Rn. 138).

Für die Anordnung von richterlich bestimmtem Transitgewahrsam ist als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bereits in § 15 Abs. 6 S. 4 AufenthG festgelegt, dass die Anordnung des Gewahrsams nur geschehen darf, wenn die Abreise innerhalb der Anordnungsdauer zu erwarten ist. Das ist vorliegend aber nicht der Fall gewesen. Die Annahme der Antragstellerin, Griechenland sei bereit, den Betroffenen im Rahmen eines Dublin-III-Verfahrens aufzunehmen, war nach den durch die Kammer zugrundezulegenden aktuellen Sachstand von Anfang an unrealistisch. Der Betroffene hat in der Beschwerdebegründungsschrift vom 08.08.2024 darauf hingewiesen, dass Griechenland in Dublin-III-Verfahren auch gegenwärtig ausschließlich Staatsangehörige aus Algerien, Marokko, Tunesien, Pakistan und Bangladesch akzeptiert. Eine entsprechende Auskunft hatte das BAMF gegenüber Pro Asyl mit Schreiben vom 27.02.2024 erteilt. Dort heißt es, dass der Mitgliedstaat Griechenland die allgemeine Vorgabe gegeben habe, dass nur Überstellungen von Einzelpersonen aus den Herkunftsländern Algerien, Marokko, Tunesien, Pakistan und Bangladesch akzeptiert würden, die einen EURODAC-Treffer GRC aufwiesen. Es sind keine Umstände erkennbar, die der Antragstellerin Veranlassung zu der Annahme gegeben haben, dass Griechenland von der dargelegten Praxis im Einzelfall des Betroffenen oder nunmehr allgemein abweichen würde. Die Antragstellerin und das BAMF haben im Beschwerdeverfahren auch nichts Abweichendes vorgetragen; sie hatten mehrfach Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Beschwerdebegründung, haben sich jedoch nicht konkret zu dieser geäußert. [...]

Im Übrigen ist die Anordnung von Überstellungs- bzw. Flughafenhaft auch schon deswegen unverhältnismäßig gewesen, weil das BAMF im Rahmen des Dublin-III-Verfahrens bei dem Aufnahmegesuch an Griechenland kein Dringlichkeitsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 Dublin-III-VO eingeleitet und deswegen den Beschleunigungsgrundsatz verletzt hat. [...]