VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 22.07.2024 - 2 E 1978/23 We - asyl.net: M32685
https://www.asyl.net/rsdb/m32685
Leitsatz:

Keine "Duldung light" bei mittelbarem Besitz eines Passes

1. Gegen den Duldungszusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" ist auf Grund seiner Natur als Nebenbestimmung die Anfechtungsklage und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO statthaft.

2. Die Passbeschaffungspflicht im Sinne des § 60 b Abs. 2 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass sich die betroffene Person nicht im Besitz eines Passes befindet. Auch der mittelbare Besitz eines Passes, der sich im Herkunftsland befindet, genügt als "Besitz", um nicht unter den Anwendungsbereich der Norm zu fallen.

3. Im Hinblick auf Abschiebungen in die Türkei ist die Nichtvorlage eines Reisepasses nicht kausal für das Unterbleiben einer Abschiebung, da gemäß dem "Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt" allein die Identitätsklärung für Abschiebungen ausreichend und kein Reisepass notwendig ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Passvorlage, Kausalität, Rückübernahmeabkommen,
Normen: AufenthG § 60b
Auszüge:

[...]

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auf den dem Antragsteller zuletzt ausgestellten und noch gültigen Duldungszusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" beschränkt.

Denn das Rechtsschutzziel des Antragstellers besteht nicht in der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Duldung, weil er bereits über eine Duldung verfügt. Stattdessen besteht sein Rechtsschutzziel in der Aufhebung des Zusatzes "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" im Sinne von § 60b Absatz 1 Satz 1 AufenthG. Bei diesem Zusatz handelt es sich um eine Nebenbestimmung zur Duldung [...]. Die Aufhebung der Nebenbestimmung ist in der Hauptsache mit der Anfechtungsklage geltend zu machen [...]. Die Anfechtungsklage hat nach §§ 60b Abs. 6, 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG jedoch keine aufschiebende Wirkung. Daneben ist nach § 62b Abs. 5 Satz 2 AufenthG unmittelbare Folge aus dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität", dass ihnen die Erwerbstätigkeit nicht erlaubt ist. Vorläufiger Rechtsschutz kann daher durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO isoliert gegen den Zusatz erreicht werden [...].

Zwar dürften sich die Duldungszusätze in den zuvor erteilten und zwischenzeitlich wegen des Zeitablaufs ungültigen Duldungen nicht erledigt haben, weil sie jedenfalls in Bezug auf den Anrechnungsausschluss in § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG noch Rechtswirkungen entfalten [...]. Wie sich jedoch aus dem Verweis in § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG auf § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG sinngemäß ergibt, kann der Anrechnungsausschluss nur durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Aufhebungsentscheidung beseitigt werden.

Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO trägt auch den sonstigen Nebenfolgen des Duldungszusatzes  gemäß § 60b Abs. 5 AufenthG darunter insbesondere die Arbeits- und die Wohnsitzauflage - hinreichend Rechnung und es bedarf insoweit keines zusätzlichen Antrags gemäß § 123 Abs. 1 VwGO [...]. Denn die Ausländerbehörde ist im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage verpflichtet, für die Dauer der aufschiebenden Wirkung alle Maßnahmen zu unterlassen, die als Vollziehung zu qualifizieren sind, d.h. der Verwirklichung der mit dem Verwaltungsakt ausgesprochenen Rechtsfolge und der sich aus ihr ergebenden weiteren Nebenfolgen dienen [...]. Sie darf dem Duldungsinhaber die Folgen, die ansonsten aus der rechtsgestaltenden Wirkung des suspendierten Zusatzes resultierten, vorläufig nicht entgegengehalten. [...]

Nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung erweist sich der Duldungszusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" gemäß § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Duldung als offensichtlich rechtswidrig.

Die Voraussetzungen von § 60b Abs. l Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Danach wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer die Duldung im Sinne des § 60a als "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt, wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nicht vornimmt. Die Erteilung des Duldungszusatzes stellt eine gebundene Entscheidung dar, ein Ermessensspielraum besteht nicht. Dem Ausländer wäre dann die Bescheinigung über die Duldung nach § 60a Abs. 4 AufenthG mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" auszustellen (§ 60b Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

Der Antragsteller kommt jedoch nicht seiner besonderen Passbeschaffungspflicht nicht nach, § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, unbeschadet des § 3 AufenthG verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. [...]

Hierbei kommt es - wie bei § 60a Abs. 6 Satz I Nr. 2, Satz 2 AufenthG, an den die Regelung angelehnt ist [...] - nur auf aktuell-kausal die Abschiebung hindernde derartige Verhaltensweisen bzw. Unterlassungen des Ausländers an. Versäumnisse allein aus der Vergangenheit sind hingegen nicht relevant [...]; hieraus erklärt sich auch der Mechanismus einer späteren Aufhebung und Streichung des Zusatzes durch die Ausländerbehörde bei Nachholung notwendiger Mitwirkungshandlungen durch den nur mit Zusatz Geduldeten, in § 60b Abs. 4 AufenthG.

Auf diese Pflichten ist der Ausländer nach § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG hinzuweisen [...].

Gemessen an diesen Maßstäben, durfte der Zusatz nach § 60b Abs. 1 AufenthG hier nicht beigefügt bzw. aufrechterhalten werden.

Der Antragsteller ist zwar vollziehbar ausreisepflichtig i.S.d. §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG. Er ist im Juni 2021 unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und sein Aufenthalt wurde nach seinem Asylantrag gestattet und nach (negativem) Abschluss fortlaufend geduldet (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Einen Aufenthaltstitel hat der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt besessen. Überdies wurde dem Antragsteller mit bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. September 2021 die Abschiebung angedroht. Spätestens nachdem sein Asylverfahren Mitte 2023 unanfechtbar erfolglos abgeschlossen worden war, (durch das VG Weimar wurde lediglich der Ausspruchs von offensichtlich unbegründet in unbegründet, mit der Folge der Fristveränderung in der Abschiebungsandrohung modifiziert) ist er nach dem Gedanken der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, 806 Abs. 1 VwGO vollziehbar ausreisepflichtig, weil seine gesetzlich nach § 55 Abs. 1 AsylG begründete Aufenthaltsgestattung hierdurch gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG vollziehbar erloschen war.

Anhaltspunkte für ein Eingreifen der 1. Alternative des § 60b Abs. 2 AufenthG dieser Vorschrift ergeben sich bei summarischer Prüfung nicht.

Diese knüpft allein an den Besitz eines Passes oder Passersatzes an ("Besitzt der vollziehbar ausreisepflichtige ..."). Der Besitz im Sinne der Norm ist nicht gleichbedeutend mit "vorlegen" oder "mitführen". Es genügt, wenn der Ausländer die Sachherrschaft über den Pass im Sinne des § 868 BGB ausübt [...]. Selbst durch eine ihrer Natur nach vorübergehende Verhinderung der Aufgabe der Sachherrschaftsgewalt wird der Besitz nicht beendigt (§ 856 Abs. 2 BGB). § 60b AufenthG sanktioniert den Nichtbesitz des Passes - nicht die Nichtvorlage oder das Nichtmitführen. Der Antragsteller selbst äußerte im Verfahren stets einen Pass in der Türkei bei seiner Familie zu besitzen. Ob dies für einen mittelbaren Besitz im Sinne des § 60b AufenthG ausreicht, gerade vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin wiederholt im Verfahren gebeten hatte, diesen vorzulegen, kommt es aber nicht an, denn der Antragsteller legte zudem im Verfahren eine Farbkopie seiner ID-Card, gültig bis … 2027, vor [...]. Dies lässt an dem Besitz dieses Dokuments soweit nicht zweifeln. Die Antragsgegnerin hat solche Zweifel auch nicht substantiiert vorgebracht. Insoweit müsste konkret dargebracht sein, was etwaige Zweifel auslöst.

Damit liegt bereits die weitere Grundlage für die weiteren Anforderungen, ihn zu verpflichten, Handlungen zu unternehmen, sich um etwaige Papiere zu kümmern, nicht vor.

Wenn es der Antragstellerin auch darum geht eine ausreichende Grundlage für eine etwaige Abschiebung zu haben, fehlt es daneben auch an der Darlegung seitens der Antragsgegnerin, dass eine Abschiebung des Antragstellers derzeit nicht möglich wäre, da die Abschiebung nicht mit dem Personalausweis oder gar einer Kopie des Personalausweises erfolgen könne. Widrigenfalls muss dies die Ausländerbehörde eingehend darlegen [...]. Erkennbar ist hier jedoch, dass nach Art 3 i.V.m. Art. 9 i.V.m. Anlage 1 des "Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt" ([...] veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 134 v. 07/05/2014 S. 0003-0027), dass für eine Abschiebung bloße Personalausweise ausreichen würden und sogar andere Dokumente, die nicht einmal Identifikationsfunktion haben - etwa die Bestätigung der Identität aufgrund einer Abfrage des Visa-Informationssystems.

Die Identität und die Staatsangehörigkeit des Antragstellers ist als solche durch die Vorlage der Kopie seiner ID-Card (Bl. 197 der Verwaltungsakte) geklärt, welche unter Beifügung eines Lichtbildes den Vornamen und den Namen, Geburtsdatum und -ort sowie die türkische Staatsangehörigkeit des Antragstellers bestätigt. Anhaltspunkte dafür, dass diese Kopie nicht das behauptete Original zu Grunde lag oder gar, dass die Kopiervorlage kein Original, sondern gar eine Fälschung darstellt, wurden weder von der Antragsgegnerin explizit geäußert noch sind solche Zweifel sonst zu Tage getreten (s.o.). Weiter gilt nach Art 3 i.V.m. Art. 9 i.V.m. Anhang 2 des "Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt" die Staatsangehörigkeit des Antragstellers, als Grundlage einer Rückübernahme durch die Türkei, durch das Eingreifen des Anscheinsbeweises mit der Vorlage der Kopie der in Anhang I aufgeführten Dokument (- Personalausweise jeglicher Art) als geklärt. Hierunter fällt auch die Kopie der ID-Card.

Damit scheidet auch die 2. Alternative des § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG aus, da es bereits an einem nicht vorhandenen Besitz an einem Pass fehlt.

Der Antragsteller verstößt gegenwärtig jedoch nicht gegen diese Pflichten aus § 60b Abs. 3 Satz 3 AufenthG. Denn der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er im Besitz einer ID-Card ist, legt diese lediglich nicht vor.

Seine Identität ist damit (zunächst) weiterhin geklärt. Zwar kann der Antragsteller gegebenenfalls weiter angehalten werden, Ausweis und/oder Pass im Original vorzulegen, vgl. § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG, wenn andere Gründe dies notwendig machen. [...]