BlueSky

OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.08.2024 - 13 ME 89/24 - asyl.net: M32681
https://www.asyl.net/rsdb/m32681
Leitsatz:

Gesamtschau mehrerer Atteste kann als "anderweitige Anhaltspunkte" für Reiseunfähigkeit ausreichen:

1. Verletzt der Ausländer die in § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG geregelte Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung, muss die Behörde Vorbringen zur Erkrankung der betroffenen Person trotzdem berücksichtigen, wenn anderweitige tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung bestehen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Eine nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechende ärztliche Bescheinigung kann unter Berücksichtigung aller individuellen Umstände des Einzelfalls - hier verschiedene Atteste und eine fachärztliche sowie ergänzende Stellungnahme - solche anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte begründen.

2. Die in § 60a Absatz 2c Satz 3 aufgenommenen Anforderungen an die ärztliche Bescheinigung sind als "Soll-Regelung" ausgestaltet. Dies bedeutet, dass ein Attest im Einzelfall auch beim Fehlen eines Merkmals noch qualifiziert sein kann, wenn die Bescheinigung im Übrigen dem Qualitätsstandard genügt und es auf das fehlende Merkmal ausnahmsweise nicht ankommt.

3. Selbst wenn sich die Verpflichtung zur unverzüglichen Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nach § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG auch auf die unverzügliche Einholung einer ärztlichen Bescheinigung bezöge, müsste die betroffene Person hierüber jedenfalls gemäß § 60a Abs. 2d Satz 4 AufenthG ordnungsgemäß belehrt werden. Die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts, der auf die unverzügliche Vorlage abstellt, genügt hierfür nicht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.08.2017 - 11 S 1724/17 - asyl.net: M25429; OVG Sachsen, Beschluss vom 19.03.2019 - 3 B 430/18 - asyl.net: M27285; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16 [Asylmagazin 12/2016, S. 437 ff.] - asyl.net: M24353; BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 1795/14 [Asylmagazin 10/2014, S. 341 ff.] - asyl.net: M22248)

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Krankheit, Attest, Unverzüglichkeit, Präklusion,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1; AufenthG § 60a Abs. 2c; AufenthG § 60a Abs. 2d; GG Art. 2 Abs. 2; VwGO § 146 Abs. 4
Auszüge:

[...]

I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg -11. Kammer - vom 29. April 2024, mit dem dieses den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, die Abschiebung der Antragstellerin aus dem Bundesgebiet aufgrund hinreichender Anhaltspunkte für das Vorliegen einer zu einer Reiseunfähigkeit der Antragstellerin führenden Erkrankung vorübergehend, bis zur Entscheidung über die Hauptsacheklage auszusetzen und die Antragstellerin zu dulden, bleibt ohne Erfolg. [...]

Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. [...]

Verletzt der Ausländer die in § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG geregelte Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung, darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nach § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG nicht berücksichtigen, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Eine nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechende ärztliche Bescheinigung kann unter Berücksichtigung aller individuellen Umstände des konkreten Einzelfalls - wie hier - solche "anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte" begründen [...]. Nur wenn der Ausländer einer daraufhin von der Ausländerbehörde verfügten Anordnung zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung nicht Folge leistet, ist die Behörde entsprechend § 60a Abs. 2d Satz 3 AufenthG berechtigt, die vorgetragene Erkrankung unberücksichtigt zu lassen [...].

Nur ergänzend weist der Senat deshalb darauf hin, dass die [...] als Absatz 2c Satz 3 in § 60a AufenthG aufgenommenen Anforderungen an die vom Ausländer zur Glaubhaftmachung einer die Abschiebung beeinträchtigenden Erkrankung vorzulegende ärztliche Bescheinigung als "Soll-Regelung" ausgestaltet ist. Dies bedeutet, dass [...] ein Attest im Einzelfall auch beim Fehlen eines Merkmals noch qualifiziert sein kann, wenn die Bescheinigung im Übrigen dem Qualitätsstandard genügt und es auf das fehlende Merkmal ausnahmsweise nicht ankommt [...].

2. Auch die Rüge des Antragsgegners, das Verwaltungsgericht habe bezüglich der Pflicht der Antragstellerin zur unverzüglichen Vorlage eines qualifizierten ärztlichen Attests auf den falschen Zeitraum abgestellt [...] genügt den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erkennbar nicht [...].

Selbst wenn sich die Unverzüglichkeit, wie der Antragsgegner meint, [...] auch auf die Verpflichtung zur Einholung der ärztlichen Bescheinigung bezöge [...], fehlte es hierfür die Präklusion nach § 60a Abs. 2d Satz 2,1. Halbsatz AufenthG an der nach § 60a Abs. 2d Satz 4 AufenthG erforderlichen ordnungsgemäßen Belehrung [...]. Denn der nach § 60a Abs. 2d Satz 4 AufenthG erforderliche Hinweis auf die Verpflichtungen des Ausländers nach § 60a Abs. 2d AufenthG und die Rechtsfolgen einer Verletzung dieser Verpflichtungen muss sich auch auf die Pflicht zur unverzüglichen Einholung der ärztlichen Bescheinigung beziehen. Erfolgt der Hinweis nicht ordnungsgemäß, scheidet eine Präklusion nach § 60a Abs. 2d AufenthG aus [...]. Denn der in Bezug genommene Schriftsatz gibt lediglich den Gesetzeswortlaut des § 60a Abs. 2d AufenthG, der auf die unverzügliche Vorlage abstellt, wieder, ohne eine Verpflichtung zur unverzüglichen Einholung einer ärztlichen Bescheinigung ausdrücklich zu erwähnen. Überdies greift die Präklusion gemäß § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG trotz Verstoßes gegen die Pflicht nach Satz 1 nicht ("es sei denn"), wenn, wie hier, aufgrund zu spät vorgelegter oder die Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG nicht erfüllende ärztliche Bescheinigungen anderweitige tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, bestehen [...]

4. Soweit der Antragsgegner ausführt, dass die im Fall der Antragstellerin konkret bestehenden Anhaltspunkte für eine Suizidgefahr infolge einer psychischen Erkrankung einer Abschiebung der Antragstellerin nicht entgegenstünden, weil die grundsätzliche Möglichkeit der Behandlung im Heimatland nach erfolgter Abschiebung durch das im Beschluss des Verwaltungsgerichts zitierte psychiatrische Gutachten des ... bestätigt werde [...], hat der Antragsgegner weder mit der Beschwerdebegründung dargelegt, dass eine rechtzeitige qualifizierte Behandlung der Antragstellerin nach ihrer Ankunft in Kolumbien sichergestellt ist, noch lässt sich dies dem Verwaltungsvorgang entnehmen, obwohl er aufgrund des entsprechenden Hinweises des Dr. ... in dessen ergänzender Stellungnahme [...] ("Wenn es aber gelingt, Frau ... mit erhaltenem Leben nach Kolumbien zu transportieren und sichergestellt ist, dass sie dort umgehend eine qualifizierte Behandlung bekommt, dann dürfte auch eine erfolgversprechende Behandlung dort möglich sein" [...]) dazu verpflichtet war, entsprechende Vorkehrungen, beispielsweise durch die Einholung einer entsprechenden Zusicherung der Behörden des Zielstaates, zu treffen. [...]