Niederlassungserlaubnis für minderjährige Schutzberechtigte in Ausbildung:
1. Die entsprechende Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gemäß § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG bei humanitären Aufenthaltstiteln für Personen, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, setzt nicht zwingend voraus, dass die Aufenthaltserlaubnis noch während ihrer Minderjährigkeit erteilt wurde. Vielmehr ist erforderlich, dass eine hinreichende rechtliche Grundlage für die Aufenthaltsverfestigung noch während der Minderjährigkeit eintritt.
2. Die wirksame Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus noch während der Minderjährigkeit stellt eine hinreichende rechtliche Grundlage für die Aufenthaltsverfestigung dar. Bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Antrags auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis.
(Leitsätze der Redaktion, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 13.09.2011 - 1 C 17.10 - asyl.net: M19189; BVerwG, Urteil vom 10.11.2009 - 1 C 24.08 - asyl.net: M16643; die Erteilung der Aufenthaltsgestattung bei späterer Schutzzuerkennung kann ebenfalls hinreichend sein, so VG Hamburg, Urteil vom 02.12.2022 - 5 K 4511/21 -, justiz.hamburg.de)
[...]
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 2. November 2021 und des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 2022 verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis vom 2. März 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. [...]
a. Der Kläger erfüllt allerdings nicht die Voraussetzungen, unter denen nach § 26 Abs. 4 Satz 1-3 i.V.m. § 9 Abs. 2 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis nach Ermessen erteilt werden kann. Denn jedenfalls hat es der Kläger aufgrund seiner Jugend und seiner erst im Jahr … begonnenen Berufsausbildung noch nicht vermocht, mindestens 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder entsprechende Leistungen zu erbringen [...]
b. Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen nach § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Niederlassungserlaubnis erteilt werden darf. [...
Die von § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG in Bezug genommene Erteilungsvoraussetzungen erfüllt der Kläger schon deshalb nicht, weil ihm eine Aufenthaltserlaubnis bei Vollendung des 16. Lebensjahres noch nicht erteilt war.
c. Es liegen aber die Voraussetzungen vor, unter denen nach § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann.
Im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn (Nr. 1) der Ausländer volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, (Nr. 2) er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und (Nr. 3) sein Lebensunterhalt gesichert ist oder er sich in einer Ausbildung befindet, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss oder einem Hochschulabschluss führt. [...]
Eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf den Kläger ermöglicht § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG. Danach kann für "Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind," § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden. [...]
aa. Der nunmehr volljährige Kläger ist, wie von § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG vorausgesetzt, minderjährig, nämlich im … und damit im Alter von … Jahren ins Bundesgebiet eingereist. [...]
bb. (1) Der Kläger erfüllt damit zugleich die Voraussetzung des mindestens fünfjährigen, unterbrechungslosen Besitzes der Aufenthaltserlaubnis entsprechend § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG [...]. Vor diesem Hintergrund kann hier dahinstehen, ob im Rahmen der entsprechenden Anwendung des § 35 AufenthG auf den Fünfjahreszeitraum auch die Zeit eines der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (nicht zwingend unmittelbar) vorangegangenen Asylverfahrens gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG anzurechnen ist (dafür VG Hamburg, Urt. v. 2.12.2022, 5 K 4511/21, n.v.; dagegen Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 26 AufenthG Rn. 61 f.).
(2) Die darin zum Ausdruck kommende hinreichende rechtliche Grundlage der Aufenthaltsverfestigung war im Falle des Klägers, wie es allerdings erforderlich ist, noch vor Erreichen der Volljährigkeit geschaffen worden. [...]
Da der Gesetzgeber mit § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG, der nur die Maßgabe einer "entsprechenden" Anwendung von § 35 AufenthG enthält, das Ziel verfolgt, Kindern mit einem humanitären Aufenthaltsrecht unter den gleichen Voraussetzungen die Aufenthaltsverfestigung ermöglichen möchte, wie sie bei Kindern gelten, die eine zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilte Aufenthaltserlaubnis besitzen [...], ist auch hier zu fordern, dass die "entsprechende" rechtliche Grundlage für die Aufenthaltsverfestigung bereits während der Minderjährigkeit geschaffen wurde und seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen fortbesteht [...].
Welche Qualität diese rechtliche Grundlage in entsprechender Anwendung haben muss, ergibt sich allerdings nicht aus dem Gesetzestext, sondern muss durch die weitere Auslegung der Vorschrift ermittelt werden.
Bereits die Gesetzessystematik eröffnet ein Verständnis, bei dem nicht zwingend bereits die Aufenthaltserlaubnis (aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) vor Vollendung der Volljährigkeit erteilt sein muss, weil es lediglich um eine "entsprechende" Anwendung von § 35 AufenthG in einem anderen rechtlichen Kontext geht: Zwischen den Personen, auf die § 35 AufenthG unmittelbar Anwendung findet, und den Personen, auf die § 35 AufenthG über § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG entsprechende Anwendung findet, bestehen regelhaft deutliche Unterschiede in der Titelerteilungsgeschichte. Im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 35 AufenthG profitieren Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes (Aufenthalt aus familiären Gründen) zum einen von der Anrechnung der Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts mit einem nationalen Visum zum Familiennachzug nach § 6 Abs. 3 Satz 3 AufenthG. Zum anderen konnten sie bereits als Minderjährige von der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis beanspruchen, ohne zuvor eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über einen Schutzstatus nach Art. 16a GG, §§ 3, 4 AsylG oder eine Schutzform nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG erwirken oder erstreiten zu müssen. Demgegenüber waren die von § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG erfassten Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) in der Vergangenheit regelhaft zunächst ohne Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz (Visum oder Aufenthaltserlaubnis) gewesen.
Dass es im Kontext des § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG gerade wegen dieser Unterschiede nicht zwingend auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ankommt, zeigt auch die Begründung des Gesetzesentwurfs. Danach soll § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG nicht allein "Kindern mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis", sondern allgemein "Kindern mit einem humanitären Aufenthaltsrecht" zugutekommen [...].
Vielmehr ist es geboten, die Anwendbarkeit von § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG danach zu bestimmen, ob das während der Minderjährigkeit gegebene Aufenthaltsrecht in wesentlich gleichem Maße Grundlage der Aufenthaltsverfestigung sein kann (vgl. Fränkel, in: Hofmann, AusländerR, 3. Aufl. 2023, § 26 AufenthG Rn. 42).
Dies entspricht – nicht widerspricht – der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 13. September 2011 [...]. Dort wird vielmehr vorrangig die Rechtslage im unmittelbaren Anwendungsbereich von § 35 AufenthG erörtert. Zwar schließt der Absatz mit dem Hinweis "so muss dies [d.h. das vorgenannte Erfordernis, …] auch bei entsprechender Anwendung der Vorschrift nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG gelten". Im Gang der weiteren Erörterung hat das Bundesverwaltungsgericht – an entscheidungstragender Stelle – allerdings nur darauf abgestellt, dass die rechtliche Grundlage für die Aufenthaltsverfestigung vor Vollendung der Volljährigkeit geschaffen wurde [...].
Eine hinreichende rechtliche Grundlage für die erfolgte Aufenthaltsverfestigung ist im Fall des Klägers aber jedenfalls durch die wirksame Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG noch während der Minderjährigkeit eingetreten. Die weitergehende Frage, was gilt, wenn der volljährig gewordene Ausländer sich während der Zeit seiner Minderjährigkeit lediglich im Sinne des § 55 AsylG gestattet (und nicht als erlaubt geltend) im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Asylverfahren erst (ggfls. weit) nach Vollendung der Volljährigkeit mit einer Asylanerkennung bzw. Zuerkennung eines Schutzstatus abgeschlossen wird – was auch das Bundesverwaltungsgericht immerhin erwägt –, oder ob dem die ex ante ungewisse Aufenthaltsperspektive während des laufenden Asylverfahrens entgegensteht, bedarf hier keiner Vertiefung (für die Anwendung des § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch in einem solchen Fall: VG Hamburg, Urt. v. 2.12.2022, 5 K 4511/21, n.v.).
Die asylrechtliche Zuerkennung des subsidiären Schutzes hat aufenthaltsrechtlich, nach § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG unmittelbar kraft Gesetzes zur Folge, dass der Aufenthalt des Zuerkennungsbegünstigten bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als erlaubt gilt. Damit wird dem Ausländer in Vorwirkung des mit der Zuerkennungsentscheidung auch objektiv bestehenden (d.h. wiederum vorbehaltlich der engen, hier nicht einschlägig gewesenen Versagungsgründe) Titelerteilungsanspruchs aus § 25 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. AufenthG ein gesetzliches Aufenthaltsrecht gegeben [...]. Dies gibt eine rechtliche Grundlage für die weitere Aufenthaltsverfestigung, die der späteren Titelerteilung, die ihr bestimmungsgemäß folgt, nicht erheblich nachsteht. [...]
2. Die Sache ist indes im Hinblick auf eine Verpflichtung zur Vornahme nicht spruchreif. Eine Reduzierung des der Beklagten nach § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessensspielraums auf Null ist nicht festzustellen. Vielmehr bleibt es Sache der Beklagten, insbesondere den von dem Kläger bislang erreichten Integrationserfolg und die weitere Integrationsperspektive zu gewichten und mit dem ggfls. gegenläufigen öffentlichen Interesse an einer Steuerung des Zuzugs von Ausländern ins Bundesgebiet unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 AufenthG) abzuwägen [...] und dabei auch eine gleichheitsgerechte Entscheidungspraxis im Blick zu behalten. [...]
Der Wertentscheidung des Gesetzgebers, als Kinder eingereiste Ausländer bei der Aufenthaltsverfestigung gegenüber sonstigen Ausländern mit Aufenthaltsrecht nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes zu privilegieren, wäre aber jedenfalls dadurch Rechnung zu tragen, dass die im Rahmen der Ermessensausübung geforderten zusätzlichen Integrationsfaktoren im Ergebnis bzw. einer Gesamtschau nicht zu einem Gleichlauf der Voraussetzungen der Erteilung nach § 26 Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 AufenthG führen dürfen. [...]