Haftbedingungen in der Türkei ohne risikoerhöhende Faktoren nicht menschenrechtswidrig:
"1. Bei gravierenden Widersprüchen und Zeichen für ein asyltaktisches Vorgehen und bei erheblicher Inkonsistenz und beliebig wirkenden Anpassungen kann das Gericht den Kläger für unglaubwürdig halten (Rn. 41).
2. Das Problem der Verletzung menschenrechtlicher Mindeststandards durch Überbelegung hat sich in der Türkei maßgeblich entschärft und betrifft nur noch einzelne Haftanstalten. Bei einer Haftstrafe wegen allgemeiner Kriminalität – ohne Terrorbezug oder organisierter Kriminalität – droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung in einer chronisch überbelegten Haftanstalt (Rn. 63).
3. Ohne risikoerhöhende Faktoren droht in türkischen Gefängnissen keine systematische oder flächendeckende Anwendung von Folter oder Misshandlungen (Rn. 107).
4. § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG a.F (juris: AsylVfG 1992) bleibt nach erfolgreichem Eilverfahren auch bei richtlinienkonformer Auslegung anwendbar (Rn. 114)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]
aa) Ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt nicht aus den vorgetragenen Verfolgungsschicksalen zu einer Verfolgung durch die PKK bzw. wegen "Blutrache". [...]
aaa) Das Gericht hält den Kläger insoweit für unglaubwürdig. Betrachtet man sein gesamtes Aussageverhalten im Laufe seines Aufenthalts in der Bundesrepublik ergeben sich derart gravierende Widersprüche und Zeichen für ein asyltaktisches Vorgehen, dass seine Person insgesamt nicht als verlässliche Quelle für die Bewertung seiner wahren Ausreisegründe angesehen werden kann. [...]
Zusammen mit der ebenfalls erst im gerichtlichen Verfahren vorgetragenen Furcht vor der Strafhaft hat der Kläger demnach vier unterschiedliche Versionen seines Verfolgungsschicksals vorgebracht, die miteinander nicht kohärent sind. [...] Der Eindruck eines ausschließlich auf asyltaktischen Motiven beruhenden Aussageverhaltens wird durch die erhebliche Übertreibung seiner Angaben hinsichtlich der Dauer der ihn erwartenden Strafhaft noch verstärkt. [...]
bbb) Überdies und unabhängig hiervon wäre die Verfolgung durch die PKK, welche der Kläger – rein isoliert betrachtet – ansatzweise konsistent sowohl beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung erwähnt hat, selbst bei Wahrunterstellung nicht flüchtlingsschutzauslösend. [...]
Der Kläger hat keinerlei glaubhafte Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass der türkische Staat in seinem Fall nicht schutzfähig oder -willig gegenüber der von den PKK ausgehenden angeblichen Bedrohung ist. [...]
bb) Die gegen den Kläger anhängigen Strafverfahren und die drohende Strafhaft stellen keine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG dar. Insofern wäre eine besondere Intensität staatlicher Verfolgungsmaßnahmen oder eine überharte Bestrafung ein Indiz für eine politisch motivierte Verfolgung im Sinne eines Politmalus [...].
Der Kläger wurde wegen Delikten der allgemeinen Kriminalität – im Wesentlichen Gewalt- und Waffendelikten – zu Einzelfreiheitsstrafen im unteren einstelligen Bereich verurteilt. Die Gesamtstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten beruht darauf, dass der Kläger wiederholt und erheblich delinquent war, was auch in der Bundesrepublik zu Freiheitsstrafen im mehrjährigen Bereich führen kann. [...]
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes. [...]
aa) Im Hinblick auf das Problem der Überbelegung türkischer Gefängnisse ergibt sich nach Auswertung der Erkenntnisquellen [...] und Berücksichtigung des individuellen Profils des Klägers [hierzu unter bbb)] keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung. [...]
85 Das Gericht geht davon aus, dass gegen den Kläger Strafhaft aufgrund der rechtskräftig ergangenen Verurteilung vom ... 2023 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten vollstreckt wird [...].
Eine Aussage darüber, an welchem Ort bzw. in welchem konkreten Gefängnis der Kläger die Strafhaft zu verbüßen hat, kann nicht getroffen werden. Das Gericht ist daher auf eine Auswertung der generellen Erkenntnislage über die Bedingungen in türkischen Gefängnissen beschränkt. Insofern ist aber zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht wegen Delikten mit Terrorbezug oder der organisierten Kriminalität verurteilt wurde, sodass er nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis der Typen F, D und T untergebracht werden wird [...].
Dies zugrunde gelegt, geht das Gericht nicht davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit der Überbelegung eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht. [...]
Das Problem, dass nach den massenhaften Inhaftierungen in Folge des Putschversuchs im Juli 2016 menschenrechtliche Mindeststandards flächendeckend nicht eingehalten wurden [...], hat sich zum aktuellen Zeitpunkt, insbesondere aufgrund von Kapazitätserweiterungen und Amnestieregelungen, entscheidungserheblich entschärft, sodass es nur noch einzelne Haftanstalten betrifft. Die Belegungsrate von 111,45 Prozent führt für sich genommen nicht zwingend zu einer solchen Annahme (vgl. jüngst unter Annahme einer noch stärkeren Überbelegung: BVerfG, Beschl. v. 21.5.2024, 2 BvR 1694/23, Rn 66, abrufbar unter www.bundesverfassungsgericht.de). Dies lässt sich insbesondere daraus folgern, dass Gesamtbewertungen zur Situation in türkischen Haftanstalten, die das Problem der Überbelegung berücksichtigen, überwiegend zu einem positiven Ergebnis hinsichtlich der Menschenrechtslage kommen: Sowohl das Auswärtige Amt, als auch das BFA kommen zu dem Ergebnis, dass in türkischen Haftanstalten Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich eingehalten werden können [...]. Auch lassen die Erkenntnisquellen nicht darauf schließen, dass in Folge der Überbelegung oder auch unabhängig hiervon derzeit ein flächendeckender Mangel an medizinischer Versorgung oder eine flächendeckende Unterschreitung der hygienischen Mindeststandards in türkischen Gefängnissen herrscht. [...]
Da das Gericht nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung aufgrund der Überbelegung ausgeht, war keine Zusicherung des türkischen Staates einzuholen, dass der Kläger in einer bestimmten Haftanstalt untergebracht wird. [...]
bb) Auch im Hinblick auf das Problem der Anwendung von Folter und Misshandlungen sowie die Behandlung kurdischer Häftlinge ergibt sich nach Auswertung der Erkenntnislage [...] und Berücksichtigung des individuellen Profils des Klägers [...] keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung. [...]
bbb) Dies zugrunde gelegt, geht das Gericht nicht davon aus, dass dem Kläger unter Berücksichtigung seines individuellen Profils im Zusammenhang mit der Anwendung von Folter oder Misshandlungen bzw. als kurdischem Häftling eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht. Insofern ist aus den Erkenntnisquellen, auch für kurdische Personen, keine systematische oder flächendeckende Anwendung solcher Praktiken ersichtlich. Risikoerhöhende Faktoren, die trotz dieser Ausgangslage zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Folter oder Misshandlungen führen würden, sind in Bezug auf den Kläger nicht erkennbar. Insofern besteht zwar zumindest die Möglichkeit, dass er bei einer Rückkehr aufgrund der laufenden Strafverfahren oder der rechtskräftigen Verurteilungen zunächst in Gewahrsam genommen wird, was sich nach den Erkenntnisquellen risikoerhöhend auswirkt. Auch vor diesem Hintergrund droht ihm aber nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder Misshandlung. So ist er nicht wegen politischer oder terroristischer Straftaten verurteilt worden, sondern wegen Delikten der allgemeinen Kriminalität. [...] Dass der Kläger während der Haft wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise behandelt werden wird, ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. Aus den Erkenntnisquellen gehen vor allem auf die Verwendung der kurdischen Sprache abzielende Beeinträchtigungen hervor, die den Kläger, der für die mündliche Verhandlung um eine Türkisch-Dolmetscherin gebeten hat, nicht in gleicher Weise treffen, wie eine Person die ausschließlich Kurdisch spricht. [...]
4. Auch der Offensichtlichkeitsausspruch ist zu Recht ergangen. [...]
Grundsätzlich ist es auch unionsrechtlich gestattet, Asylanträge im Falle einer verspäteten Antragstellung als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Denn gemäß Art. 32 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie können die Mitgliedsstaaten im Falle von unbegründeten Anträgen, bei denen einer der in Art. 31 Abs. 8 aufgeführten Umstände gegeben ist, einen Antrag als offensichtlich unbegründet betrachten, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Nach Art. 31 Abs. 8 Buchst. h) können die Mitgliedsstaaten das Verfahren beschleunigen, wenn der Antragsteller unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist ist oder seinen Aufenthalt unrechtmäßig verlängert hat und es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände seiner Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den
Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32/EU gestattet den Mitgliedsstaaten Einschränkungen der in Abs. 5 vorgesehenen mitgliedsstaatlichen Pflicht, Antragsteller bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf ein (vorläufiges) Bleiberecht zu sichern. Allerdings gelten diese Einschränkungen des vorläufigen Bleiberechts nach Art. 46 Abs. 6 Buchst. a) nicht, wenn die Entscheidung, den Antrag als offensichtlich unbegründet zu betrachten, auf die in Art. 31 Abs. 8 Buchst. h) aufgeführten Umstände gestützt ist. Die sich daraus ergebende Einschränkung der Wirkungen der offensichtlichen Unbegründetheit war im nationalen Recht nicht umgesetzt. [...]
Im Falle des Klägers ist die Anwendbarkeit des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG a.F. nicht wegen Unionsrecht ausgeschlossen. Sein vorläufiges Bleiberecht ist dadurch gewahrt ist, dass – angesichts des stattgebenden Beschlusses im Eilverfahren vom 15. September 2023 (...) – seine Ausreisefrist nach § 37 Abs. 2 AsylG erst 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. [...]