Keine offensichtliche Rechtmäßigkeit bei offenen unionsrechtlichen Fragen:
1. Stellt sich im Eilverfahren eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Frage, die voraussichtlich eine Vorlage an den EUGH erfordert, gebietet es die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, dies bei den Erfolgsaussichten zu berücksichtigen. Eine offensichtliche Rechtsmäßigkeit des Verwaltungsaktes wird regelmäßig nicht bejaht werden - unabhängig von der eigenen, notwendig nur vorläufigen rechtlichen Einschätzung des entscheidenden Gerichts.
2. Die Frage, ob § 71a AsylG (Zweitantrag) mit Art. 33 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie vereinbar ist, ist hochumstritten und erfordert auch im Eilverfahren eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen [...], da dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient [...].
Stellt sich bei dieser Rechtsprüfung eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den Europäischen Gerichtshof erfordert [...], so gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dies im Eilverfahren bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu berücksichtigen [...]. Regelmäßig wird dann jedenfalls die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts – unabhängig von der eigenen, notwendig nur vorläufigen rechtlichen Einschätzung des entscheidenden Gerichts – nicht bejaht werden können [...]. Diese Grundsätze gelten auch, wenn sich ein Beschwerdeführer auf eine bereits in einem anderen Verfahren erfolgte Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union beruft. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Vorlagefrage auch in seinem eigenen Verfahren entscheidungserheblich und eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union im Hauptsacheverfahren – vorbehaltlich der Möglichkeit der Aussetzung im Hinblick auf die in dem bereits vorgelegten anderen Verfahren zu erwartende Klärung – erforderlich ist [...].
2. Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Es hat in seiner unanfechtbaren (vgl. § 80 AsylG a.F.) Entscheidung schon eine dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG entsprechende "abschließende“ Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht vorgenommen.
Die hier offensichtlich entscheidungserhebliche Frage, ob § 71a AsylG mit der Asylverfahrensrichtlinie vereinbar ist, stellte sich im Zeitpunkt der Eilentscheidung als höchst umstritten dar [...].
Zwar ging, worauf das Verwaltungsgericht maßgeblich abstellt, das ihm übergeordnete Oberverwaltungsgericht in einem Berufungszulassungsverfahren davon aus, einer grundsätzlichen Klärungsbedürftigkeit (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) stehe entgegen, dass die Frage, ob die Anwendung des § 71a AsylG mit Art. 33 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie vereinbar sei, bereits dahingehend geklärt sei, dass § 71a AsylG – im Einklang mit der ganz überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur – mit Unionsrecht zu vereinbaren sei; die überzeugenden Ausführungen des Generalanwalts in dem Verfahren C-8/20 ließen keinen Raum für vernünftige Zweifel daran, dass es sich offenkundig um einen acte clair handele [...]. Bei dem Verweis auf diese Entscheidung übersieht das Verwaltungsgericht jedoch, dass das Oberverwaltungsgericht keine Kenntnis von den durch das Verwaltungsgericht Minden anhängig gemachten Vorabentscheidungsverfahren hatte und diese ebenso wenig berücksichtigen konnte wie die in der Folge ergangene Rechtsprechung von Verwaltungsgerichten aller Instanzen, die sich mit den (neuen) Vorabentscheidungsverfahren auseinandersetzt. Die Vorlagebeschlüsse des Verwaltungsgerichts Minden, deren Veröffentlichungszeitpunkt nicht bekannt ist, ergingen zwei Monate vor dem in Bezug genommenen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts; sie gingen im März 2023 beim Europäischen Gerichtshof ein,was erst im Juli 2023 im Amtsblatt der Europäischen Union bekanntgemacht wurde [...].
All dies hätte eine eingehendere Auseinandersetzung mit der von dem Beschwerdeführer ausdrücklich aufgeworfenen, bei dem Europäischen Gerichtshof (wenn auch in einem anderen Verfahren) anhängigen unionsrechtlichen Fragestellung und dem zwischenzeitlichen Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung erfordert. Der schlichte Verweis auf die genannte Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts übergeht die anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, ihre möglichen Auswirkungen auf anhängige einstweilige Rechtsschutzverfahren sowie den rechtstatsächlichen Umgang anderer Verwaltungsgerichte mit ihnen. Zu alledem verhält sich die durch das Verwaltungsgericht referenzierte Entscheidung (notwendigerweise) nicht, da sie zu einem früheren Zeitpunkt erging. In dieser Lage ohne eigene erkennbare Prüfung und Begründung von offenkundiger Unionsrechtskonformität auszugehen und ohne substantiell auf die von dem Beschwerdeführer aufgeworfenen (unionsrechtlichen) Fragen einzugehen, wie es das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung tut, genügt den genannten Anforderungen nicht. Auch der Verweis auf eine (nicht erkennbar veröffentlichte oder dem Beschwerdeführer sonst zugängliche) Kammerentscheidung behebt dieses Defizit nicht. Eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation des Beschwerdeführers bei einer Abschiebung in den Irak ist nicht erkennbar. [...]