Ablehnung des Asylantrags wegen Zweifeln an Authentizität von Dokumenten/ Begründungsaustausch bei Ausspruch als "offensichtlich unbegründet":
1. Über den Zugang zu e-Devlet oder dem integrierten Justizportal UYAP können türkische Staatsangehörige sowie Rechtsanwält:innen nach Eröffnung eines strafrechtlichen Hauptverfahrens grundsätzlich Einsicht in die Ermittlungsakte nehmen. Auch bei Verfahren mit Terrorbezug ist üblicherweise jedenfalls einsehbar, dass ein Strafverfahren läuft. Untersuchungshaftbefehle sind grundsätzlich sichtbar mit Ausnahme solcher, die in Abwesenheit der flüchtigen Person ergehen können.
2. Legt eine asylsuchende Person Dokumente aus Strafverfahren in der Türkei vor, behauptet aber, ein Zugriff auf die digitalen Akten sei weder persönlich noch anwaltlich möglich, so widerspricht dies der aktuellen Erkenntnislage und begründet daher Zweifel an der Echtheit der Dokumente.
3. Allein die Mitgliedschaft in der HDP und Teilnahme an entsprechenden niedrigschwelligen Aktivitäten zieht ohne Hinzutreten besonderer Umstände regelmäßig keine Verfolgungsgefahr nach sich.
4. Angehörige des kurdischen Bevölkerungsteils sind auch im Südosten der Türkei trotz verschärfter Lage keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt - ihnen stünde zudem eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
5. Ein Asylantrag kann nicht wegen Vernichtung der Reisepässe als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, wenn dies nicht geschehen ist, um die Identität zu verschleiern, sondern um die Rückführung zu erschweren.
6. Wird eine Klage gegen einen Bescheid des Bundesamtes, dessen Offensichtlichkeitsausspruch auf § 30 Abs. 1 Nr. 3–7 AsylG n.F. gestützt ist, abgewiesen, weil das Gericht die Begründung des Ausspruches austauscht und diesen etwa auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AsylG n.F. stützt, ist die Begründung des angefochtenen Bescheids aufzuheben, weil nur die Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Absatz 1 Nr. 3–7 AsylG n.F. eine absolute Titelerteilungssperre gemäß § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG zur Folge hat. Diese greift jedoch nicht mehr, wenn dem Bescheid des Bundesamts nach Aufhebung der entsprechenden Begründung nicht mehr eindeutig zu entnehmen ist, dass die qualifizierte Ablehnung auf einen Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 3–7 AsylG n.F. gestützt ist.
(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf OVG Niedersachsen, Urteil vom 27.05.2016 - 11 LB 53/15 (= Asylmagazin 7/2016, S. 217 ff.) - asyl.net: M23902; OVG Sachsen, Urteil vom 07.04.2016 - 3 A 557/13.A - asyl.net: M23916; VG Köln, Urteil vom 07.12.2022 - 22 K 2556/20.A - asyl.net: M31416; VG Potsdam, Urteil vom 13.08.2020 - 1 K 4342/17.A - asyl.net: M28753; BVerwG, Urteil vom 25.08.2009 - 1 C 30.08 [= Asylmagazin 2010, S. 32 ff.] - asyl.net: M16254)
[...]
19 Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]
26 In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist [...] geklärt, dass eine [...] verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung aus politischen Gründen in der Türkei derzeit (nur) bei Personen besteht, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder sie sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und sie deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK, der Gülen-Bewegung oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 31. Mai 2016 – 11 LB 53/15 –, juris Rn. 37; OVG Magdeburg, Beschluss vom 17. Mai 2016 – 3 L 177/ 15 –, juris Rn. 18; OVG Bautzen, Urteil vom 7. April 2016 – 3 A 557/13.A –, juris Rn. 34). [...]
33 Vorliegend ist der erkennende Einzelrichter indes nicht vom Vorliegen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass gegen den Kläger zu 1. in seinem Heimatland ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren mit möglichem "Politmalus" läuft, überzeugt.
34 Zwar haben die Kläger Unterlagen vorgelegt, die die Existenz entsprechender Ermittlungsverfahren glaubhaft machen sollen. [...]
35 Für die Frage, ob die vorgelegten Schriftstücke echt sind, gilt die freie Beweiswürdigung. [...]
36 Dies vorweg geschickt hat der erkennenden Einzelrichter in der Gesamtschau aller Einzelfallumstände ernstliche Zweifel an der Aussagekraft der vorgelegten Dokumente und somit des gesamten Vortrags der Kläger.
37 Hier ist insofern insbesondere zu berücksichtigen, dass nach Auskunft des Auswärtigen Amtes der Zugang zu gefälschten Dokumenten jeglicher Art ist grundsätzlich möglich ist. In Gruppen verschiedener sozialer Medien wird ein breites Portfolio von Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden, Auszüge aus dem Personenstandsregister, Personalausweise, Reisepässe, Haftbefehlen, Anklageschriften oder Urteilen falschen Inhalts sowie sonstige Dokumente (Vorladungen, Bescheinigungen, dass eine Person gesucht wird) zum Erwerb bereitgestellt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 20. Mai 2024, S. 22).
38 Im Weiteren ist hier das Folgende zu berücksichtigen:
39 Mit Hilfe des staatlichen e-Devlet-Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen online in Anspruch nehmen. [...] Der Zugang zu e-Devlet oder dem Justizportal UYAP kann mit den erforderlichen Zugangsdaten auch aus dem Ausland erfolgen. Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene, in das e-Devlet-System integrierte Plattform, zu der u.a. jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. Die Plattform eröffnet u.a. die Möglichkeit, Verfahrensakten einzusehen oder Schriftsätze zu übermitteln. [...] Im Hinblick auf das Strafverfahrensrecht ist vor Eröffnung des Hauptverfahrens der Zugang zu Ermittlungsakten grundsätzlich verwehrt. Gerichtsakten sind für Bürger im gleichen Umfang wie für Anwälte einsehbar. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens wird die Ermittlungsakte freigeschaltet, es steht jedoch im Ermessen des Staatsanwalts, welche Dokumente freigegeben werden. Grundsätzlich sind Dokumente wie Anklageschrift, Verhandlungsvorbereitungsprotokoll, Hauptverhandlungsprotokoll, Ladungen/Zustellungen, Termine, anwaltliche Schriftsätze und Urteile einsehbar (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Gelsenkirchen vom 1. März 2024, Merkblatt). Der Zugang zu Akten kann besonders bei Verfahren mit Terrorbezug eingeschränkt sein, die Tatsache, dass ein Strafverfahren läuft, ist aber üblicherweise einsehbar. [...] U-Haftbefehle sind grundsätzlich in jedem Stadium sichtbar, da die Anwesenheit des Betroffenen für den Erlass des Haftbefehls vorausgesetzt wird. Ausgenommen hiervon sind Haftbefehle, die unter bestimmten Bedingungen in Abwesenheit des Flüchtigen ergehen können (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20. Mai 2024, Merkblatt e-Devlet (<"E-Staat">).
40 Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Einzelrichter nicht davon überzeugt, dass die vorgelegten Dokumente authentisch sind. [...] Aus den klägerischen Angaben ist zu entnehmen, dass trotz der vorgetragenen Akteneinsicht ein Zugriff über e-Devlet und somit UYAP auf die Akten auch für die Rechtsanwältin nicht möglich sei. Dies entspricht indes nicht der zitierten Erkenntnislage. Eine nachvollziehbare Begründung für diese Abweichung im vorliegenden Fall haben die Kläger nicht vorgetragen. [...]
42 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen und der vorzunehmenden Gesamtwürdigung ist der erkennende Einzelrichter nicht davon überzeugt, dass gegen den Kläger zu 1. In der Türkei ein oder mehrere Ermittlungsverfahren geführt werden.
43 Soweit der Kläger zu 1. im weiteren Angeben hat, dass er Mitglied der HDP sei, ist auch dieser Vortrag nicht geeignet, eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr zu begründen. [...]
56 [...] Normale Mitglieder stehen dabei im Allgemeinen nicht allein wegen ihrer politischen Überzeugung im besonderen Fokus der staatlichen Ermittlungsbehörden. Die Aufmerksamkeit der Behörden erlangen normale Mitglieder meist nur darüber, dass sie ungünstig aufgefallen sind. Eine Verfolgungsgefahr wird nach Ansicht des erkennenden Einzelrichters durch niedrigschwellige Aktivitäten in Zusammenhang mit der HDP ohne Hinzutreten besonderer Anhaltspunkte regelmäßig nicht begründet [...].
59 Auch die kurdische Volkszugehörigkeit der Kläger, kann einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht begründen. [...]
66 Für Kurden lässt sich danach unabhängig von besonderen individuellen Merkmalen allgemein keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Verfolgung feststellen [...]. Soweit es faktisch zu staatlichen Diskriminierungen kommt, die allein an die Volkszugehörigkeit anknüpfen, erreichen sie regelmäßig nicht den erforderlichen Schweregrad gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
67 Auch bei kumulierender Betrachtung (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG) der staatlichen Diskriminierung mit Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure ist nicht von einer Gruppenverfolgung auszugehen. [...]
68 Auch in der Herkunftsregion der Kläger im Südosten der Türkei besteht für Angehörige des kurdischen Bevölkerungsteils keine Gruppenverfolgungssituation. Aufgrund der verstärkten Sicherheitsoperationen der Türkei vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK [...], stellt sich die Lage in der Südosttürkei für Kurden zwar als verschärft, jedoch flüchtlingsrechtlich nicht erheblich anders dar als in anderen Regionen der Türkei. [...]
76 Soweit die Beklagte den Asylantrag im Sinne des § 13 AsylG des Klägers zu 1. indes nicht nur einfach, sondern als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt hat, ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Klägern zu 1. in seinen Rechten, sodass der Offensichtlichkeitsausspruch in Nr. 1 bis 3. des angefochtenen Bescheides – soweit er den Kläger zu 1. betrifft – insoweit aufzuheben ist [...]
78 Der Offensichtlichkeitsausspruch wird im angefochtenen Bescheid auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gestützt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen. Die Antragsgegnerin begründet die Anwendung von § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG damit, dass der Kläger zu 1. seinen Reisepass sowie den der Klägerin zu 2. vernichtet habe. Dies trägt vorliegend nicht.
79 Zwar hat der Kläger zu 1. mitgeteilt, dass er die Reisepässe von sich und der Klägerin zu 2. zerrissen habe. Allerdings war damit offensichtlich nicht bezweckt, die Identifizierung der Kläger zu erschweren oder ihre Identität in Gänze zu verschleiern. Die Kläger haben im Asylverfahren vielmehr andere Dokumente vorgelegt, die ihre offensichtlich auch zum Nachweis ihrer Identität geeignet sind. Dies betrifft ihre Personalausweise (ID-Cards). Mit der Vernichtung der Reisepässe war demnach erkennbar keine Absicht der Kläger verbunden, die Feststellung ihrer Identität zu verhindern. Auch, wenn man davon ausgehen wollte, dass durch die Vernichtung der Reisepässe auch eine mögliche Rückführung der Kläger erschwert oder verhindert werden soll, kann dies gegebenenfalls ein handlungsleitendes Motiv sein. Allerdings findet sich in § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG kein normativer Anhaltspunkt dafür, dass die mutwillige Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments mit dem Ziel erfolgen sollte, eine Rückführung des Ausländers zu erschweren. [...]
81 Der angefochtene Bescheid ist im Weiteren in Bezug auf die Klägerin zu 2. insoweit rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten, wie der sie betreffende Offensichtlichkeitsausspruch in der Begründung auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG n. F. gestützt worden ist. [...]
83 Allerdings lässt sich der Offensichtlichkeitsausspruch in Bezug auf die die Klägerin zu 2. Grundsätzlich auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n. F. stützen. [...]
88 Ob die Grundlage für einen Offensichtlichkeitsausspruch im Hauptsacheverfahren ausgewechselt werden kann, war sowohl in Bezug auf die hier anzuwendende alte Rechtslage strittig und ist es im Übrigen auch in Bezug auf die aktuelle Rechtslage immer noch.
89 Für diese Möglichkeit spricht grundsätzlich, dass das Gericht – wie ausgeführt – aufgrund einer eigenständigen Beurteilung prüft sowie die Entscheidung über den Offensichtlichkeitsausspruch nicht im Ermessen des Bundesamtes steht [...]. Problematisch wird ein entsprechendes Auswechseln der Begründung des Offensichtlichkeitsausspruchs allerdings dann, wenn z. B. das Bundesamt diesen Ausspruch auf einen der Tatbestände des § 30 Abs. 1 Nr. 3 – 7 AsylG n. F. gestützt hat. Denn ist der Asylantrag nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 – 7 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden, untersagt § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG strikt, dem Ausländer vor der Ausreise einen Aufenthaltstitel zu erteilen (absolute Titelsperre). Da diese spezifische ausländerrechtliche Sanktionswirkung nicht eintritt, wenn die qualifizierte Ablehnung des Asylantrags auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt wird, obliegt es aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dem Bundesamt, unzweideutig klarzustellen, dass es seinen Offensichtlichkeitsausspruch (auch) auf einen der Tatbestände des § 30 Abs. 1 Nr. 3 – 7 AsylG n. F. stützen will [...] Würde nunmehr eine Klage gegen einen Bescheid des Bundesamtes, dessen Offensichtlichkeitsausspruch auf § 30 Abs. 1 Nr. 3 – 7 AsylG n. F. gestützt ist, abweist, weil das Gericht die Begründung des Ausspruches austauscht und diesen etwa auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AsylG n. F. stützt, würde indes letztlich auch die Begründung des Bescheides unangetastet bleiben und somit gegebenenfalls die beschriebenen ausländerrechtlichen Folgen haben. Dieser Problematik kann indes insoweit hinreichend begegnet werden, wenn – wie hier erfolgt – zwar nicht der auf eine alternative Begründung stützbare Offensichtlichkeitsausspruch aufgehoben wird, aber die hier mit einer eigenen rechtlichen Beschwer verbundene Begründung aufgehoben wird. Denn wenn dem Bescheid des Bundesamts nicht eindeutig zu entnehmen ist, dass die qualifizierte Ablehnung auf einen Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 3 – 7 AsylG n. F. gestützt ist, greift die Titelerteilungssperre nach Auffassung des Einzelrichters nicht ein. [...]