Ehegattennachzug aus humanitären Gründen zu Person mit Abschiebungsverbot:
In fortgeschrittenen Alter ist bei fehlender Sozialisierung im Libanon aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage nicht zu erwarten, dass eine für die Familie ausreichende Erwerbstätigkeit gefunden werden wird. Die sich daraus ergebende Unzumutbarkeit der Aufnahme der familiären Lebensgemeinschaft im Libanon begründet sowohl einen humanitären Grund nach § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als auch - im Zusammenwirken mit der Arbeitsunfähigkeit der in Deutschland lebenden Referenzperson - einen Grund, von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung ausnahmsweise abzusehen.
(Leitsätze der Redaktion; Urteil aufrechterhalten durch OVG Berlin-Brandenburg: Beschluss vom 05.08.2024 – 3 N 74/24 – asyl.net: M32648; Anmerkung: Die 38. Kammer des VG Berlin hatte zuletzt offen gelassen, ob ein humanitärer Grund i.S.d. § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG schon dann vorliegt, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet gelebt werden kann, siehe VG Berlin, Urteil vom 12.09.2023 - 38 K 90/22 V - www.gesetze.berlin.de)
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Die Klage hat Erfolg. [...]
Der angefochtene Bescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut vom 15. September 2022 sowie der Remonstrationsbescheid derselben vom 3. Mai 2023 erweisen sich als rechtswidrig und verletzen den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums zum Ehegattennachzug. [...]
b) Dem Nachzugsbegehren des Klägers steht auch nicht die Bestimmung des § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. [...] Nicht familiäre Bindungen allein, sondern alle Umstände, die eine humanitäre Dringlichkeit begründen, sollen für die Entscheidung maßgeblich sein, ob und wann welche Ausländer aus humanitären Gründen aufgenommen und ihnen der Aufenthalt im Bundesgebiet erlaubt werden soll. Der Familiennachzug wird daher grundsätzlich nur für Personen zugelassen, die selbst die Voraussetzungen für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen erfüllen. Ein humanitärer Grund kann insbesondere vorliegen, wenn die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet hergestellt werden kann [...].
Danach ist hier ein humanitärer Grund gegeben. Denn die eheliche Lebensgemeinschaft mit der Referenzperson kann der Kläger auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet führen. Aufgrund der allgemeinen Lage in Syrien [...] kann die gemeinschaftliche Lebensführung [...] nicht dort als Herkunftsland der Referenzperson und langjährigem wie derzeitigem Aufenthaltsort des Klägers erfolgen. Darüber hinaus ist dem Ehepaar zur Überzeugung der Einzelrichterin auch eine gemeinsame Niederlassung im Libanon zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht möglich bzw. zumutbar, obgleich sowohl der Kläger als auch die Referenzperson libanesische Staatsangehörige sind. Dabei kann dahinstehen, ob sich die Unzumutbarkeit allein aus der Bindungswirkung des bestandskräftigen Asylbescheides vom 22. Oktober 2019 mit festgestelltem Abschiebungsverbot für die Referenzperson ergibt [...] oder ob eine freiwillige Aufnahme der familiären Lebensgemeinschaft im Libanon hier zumutbar ist, weil das vom Bundesamt festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG darauf beruht, dass die Referenzperson als alleinerziehende Mutter nicht im Libanon leben könne, dies aber nicht der Fall wäre, wenn sie dort die eheliche Lebensgemeinschaft mit dem Kläger aufnehmen würde. Denn die Unzumutbarkeit ergibt sich [...] insbesondere daraus, dass weder der Kläger noch seine Ehefrau im Libanon über ein familiäres oder anderweitiges soziales Netzwerk verfügen und angesichts der extremen Wirtschaftskrise im Land, die sich seit 2019 zusehends dramatisch verschlechtert und Dreiviertel der Bevölkerung an oder unter die Armutsgrenze getrieben hat [...], nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die Familie dort ausreichend wird versorgen können. Dies gilt auch deshalb, weil der Kläger sein Heimatland gemeinsam mit seiner Familie bereits im Alter von zwei Jahren verlassen hat und seitdem in Syrien lebt. Trotz seines juristischen Studiums in Syrien ist angesichts seiner fehlender Arbeitserfahrung im juristischen Bereich, seines fortgeschrittenen Alters sowie seiner Sozialisierung in Syrien nicht zu erwarten, dass der Kläger bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage im Libanon eine für die Familie ausreichende Erwerbstätigkeit wird finden können. Dasselbe gilt für die Referenzperson, die zwar aufgrund der Eheschließung mit dem Kläger die libanesische Staatsangehörigkeit erlangt hat, der aber sonst jeder Bezug zu dem Land fehlt und die darüber hinaus bereits 63 Jahre alt ist und unter diversen Krankheiten leidet. [...] Es kommt nur hinzu, dass die Familie bereits seit sechs Jahren voneinander getrennt ist.
2. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung des begehren Visums nach § 5 Abs. 1 AufenthG sowie nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sind ebenfalls erfüllt.
Insbesondere steht die Sicherung des Lebensunterhalts einer Visumerteilung nicht entgegen. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt hinreichend gesichert ist. [...]
Von der Regelerteilungsvoraussetzung ist vorliegend jedoch ausnahmsweise abzusehen. Sowohl verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen als auch atypische Umstände des Einzelfalls, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, können eine Ausnahme vom Regelfall rechtfertigen [...].
Nach dieser Maßgabe kommt das Gericht unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu dem Ergebnis, dass der hier vorliegende Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK unverhältnismäßig ist. Insbesondere kann die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik verwirklicht werden [...]. Darüber hinaus kann der Referenzperson nicht entgegengehalten werden, dass sie seit ihrer Einreise in Deutschland und der Feststellung eines Abschiebungsverbots im Jahr 2019 keine hinreichenden Bemühungen gezeigt hat, zum Lebensunterhalt ihrer Familie zumindest anteilig beizutragen. Denn es ist zur Überzeugung der Einzelrichterin davon auszugehen, dass die Referenzperson bereits mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen in die Bundesrepublik eingereist ist, nachdem sie im Jahr 2018 einen Schlaganfall erlitten hatte. Der Umstand, dass sie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erst ab März 2022 vorgelegt hat, vermag zu keiner anderen Einschätzung zu führen. Insbesondere dürfte die Ausstellung früherer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht notwendig gewesen sein, zumal das Jobcenter die Referenzperson nach dem glaubhaften und unbestrittenen Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands weitgehend in Ruhe gelassen habe. [...]