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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, vom 04.03.2024 - W 7 K 23.30458 - asyl.net: M32643
https://www.asyl.net/rsdb/m32643
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen der drohenden Entsendung in den Ukrainekrieg: 

1. Die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG. Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges liegt ein drohender ernsthafter Schaden in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. 

2. Aufgrund des aktuell hohen Mobilisierungsdrucks ist davon auszugehen, dass ein alleinstehender gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter, der bei Wiedereinreise in die Russische Föderation an den Grenzen behördlich erfasst werden wird, mit seiner zeitnahen Einberufung zum Wehrdienst rechnen muss. Dabei ist unerheblich, ob bereits ein Musterungsbescheid vorliegt.

3. Die Erfolgsaussichten, sich dem Wehrdienst durch Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes zu entziehen, sind als gering einzuschätzen. Genauso wenig ist interner Schutz zu erlangen. Die reguläre Einberufung zum Wehrdienst droht unabhängig vom Wohnsitz innerhalb der gesamten Russischen Föderation. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Russische Föderation, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Tschetschenen, offensichtlich unbegründet, Asylfolgeantrag, Beweismittel, Fälschung, Zwangsrekrutierung,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
Auszüge:

[...]

18 Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im aufgenommenen Folgeverfahren (1) einen Anspruch auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter (2). [...]

20 [...] Insofern ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (a). Bei Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Kläger diese Entsendung zur Überzeugung des Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (b).

21 a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

22 Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, wie er derzeit von der Russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, liegt ein drohender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung [...]. Diese Auslegung der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK wird durch die Wertung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterstrichen. Denn der Militärdienst im Ukrainekrieg würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen und deren Ächtung und Verhinderung wiederum eines der Ziele von Art. 3 EMRK ist [...]. Hinter dieser Interpretation des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG steht der Gedanke, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK auch daraus resultieren kann, dass eine Person bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation geraten wird, in der sie entweder ihrerseits andere Menschen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzen muss oder strafrechtlich sanktioniert werden wird.

23 Die russischen Streitkräfte haben in der Ukraine viele Taten begangen, die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden können, insbesondere zahlreiche Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Es ist wahrscheinlich, dass in die Ukraine entsendete Soldaten in solche Verbrechen verwickelt werden [...] Das Sich-Entziehen von der Einberufung vom Militärdienst und das Sich-Entziehen eines Militärdienstleistenden von der Erfüllung der Militärdienstpflichten werden in Art. 328 bzw. Art. 339 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation strafrechtlich sanktioniert [...].

24 b) Dem 25-jährigen Kläger als trotz der vorgebrachten posttraumatischen Belastungsstörung körperlich gesundem russischen Staatsangehörigen im wehrpflichtigen Alter droht bei Rückkehr in die russische Föderation zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Wehrdienst (1) und anschließend die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine (2). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht insofern nicht (3). Dem steht es nicht entgegen, dass der Kläger auch zur Überzeugung des Gerichts gefälschte Beweismittel vorgelegt hat (4). [...]

27 Die Wehrpflicht in Russland betrifft ab dem 1. Januar 2024 volljährige Männer bis zum Alter von 30 Jahren. Das Höchstalter von zuvor 27 Jahren wurde vor der nächsten Einberufungswelle im Frühjahr 2024 am 25. Juli 2023 angehoben, um die Zahl der wehrpflichtigen Männer deutlich zu erhöhen [...].

28 Jeweils im Frühjahr und Herbst findet die Einberufung der Wehrpflichtigen statt. Sie umfasste in den vergangenen Jahren durchschnittlich rund 130.000 Männer pro Halbjahr. Bereits am 14. April 2023 trat die Gesetzesänderung in Kraft, dass künftig Einberufungsbescheide nicht mehr persönlich überreicht werden müssen, sondern auch auf elektronischem Weg zugestellt werden können [...].

29 Bislang war es so, dass ca. die Hälfte Männer, die ins wehrpflichtige Alter kommen, auch eingezogen wurde. Die Frühjahrs-Einberufungswelle 2023 umfasste mit 147.000 Männern dabei die größte Zahl einberufener Wehrpflichtiger seit 2016, bereits in der jüngeren Vergangenheit war also eine gewisse Steigerung zu verzeichnen [...]

30 Die Gesetzesänderungen im Vorfeld der Einberufungswelle ab Februar 2024 deuten zur Überzeugung des Einzelrichters darauf hin, dass diese Zahlen künftig noch weiter gesteigert werden sollen. Darauf deutet auch das jüngste Dekret Nr. 155 des russischen Präsidenten vom 1. März 2024 hin, auf das der Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat und wonach weitere Reservisten einberufen werden sollen. Der Kläger, der nie Wehrdienst geleistet hat und weiterhin im wehrpflichtigen Alter ist, ist zwar kein Reservist [...]. Das Dekret unterstreicht aber nochmals, dass sich die russische Regierung derzeit umfassend um die Rekrutierung weiterer Männer zum Kampf in der Ukraine bemüht.

31 Der aktuell hohe Mobilisierungsdruck angesichts großer Verluste der Armee lässt sich auch zahlreichen allgemein zugänglichen Medienberichten entnehmen [...].

32 Es ist daher zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass ein alleinstehender gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter, der bei Wiedereinreise in die Russische Föderation an den Grenzen behördlich erfasst werden wird [...], mit seiner zeitnahen Einberufung zum Wehrdienst rechnen muss.

33 Vor diesem Hintergrund ist es auch unerheblich, dass das Gericht – wie die Beklagte – davon ausgeht, dass der Kläger bislang keinen echten Musterungsbescheid erhalten hat [...].

34 Anders als die Beklagte auf Seite 12 des Bescheids betont, besteht in Russland de facto auch kaum noch eine Möglichkeit, sich der Wehrpflicht durch Ableistung des in der Verfassung verbürgten  Ersatzdienstes zu entziehen. Entsprechende Anträge werden in aller Regel abgelehnt [...]. Soweit das oberste Gericht der Russischen Föderation laut Medienberichten im November 2023 ein Recht auf Zivildienst bei Mobilmachung anerkannt hat, das einfachgesetzlich unter Verstoß gegen die russische Verfassung nicht vorgesehen ist, bezieht sich dieses Urteil allein auf die Verweigerung des Militärdiensts aus religiösen Gründen und außerdem allein darauf, dass das Gesetz eine solche Möglichkeit prinzipiell vorsehen muss [...]. Dass sich die Erfolgsaussichten von Anträgen auf Ableistung des in der Verfassung verbürgten Ersatzdienstes in Zukunft im Allgemeinen erhöhen werden, kann daraus jedenfalls aktuell noch nicht abgeleitet werden.

35 (2) Das Gericht geht weiter davon aus, dass eine beachtlich wahrscheinliche Einberufung zum Wehrdienst auch – entgegen dem vom Kläger im Verfahren wiederholt geäußerten Willen – den beachtlich wahrscheinlichen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine bedeuten würde. [...]

38 Nach Auskunft des Auswärtigen Amts, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS, Seite 2 f. ist aber davon auszugehen, dass nach den Rechtsvorschriften der Russischen Föderation zwar ausschließlich Reservisten einer Mobilmachung bzw. Teilmobilmachung unterliegen. Es gebe allerdings Hinweise darauf, dass Grundwehrdienstleistende für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden. Im Juni 2022 habe der Militärstaatsanwalt des Militärbezirks West (der Moskau und St. Petersburg umfasst) von rund 600 ihm bekannten Fällen aus seinem Militärbezirk gesprochen, in denen Wehrpflichtige gesetzeswidrig in der Ukraine zum Einsatz kamen. Auch Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 16 stellt fest, dass innerhalb der ersten Mobilisierungswelle des Krieges Rekruten nahezu unmittelbar nach ihrer Einberufung an der Frontlinie eingesetzt wurden. [...]

41 Zusätzlich zu diesen Berichten über tatsächliche Einsätze ist festzuhalten, dass die Entsendung Wehrpflichtiger in Kampfeinsätze im Ausland nach russischem Recht bereits nach einer viermonatigen Ausbildung möglich ist. Bei Ausrufung des Kriegsrechts – wie in den besetzten ukrainischen Gebieten – wird dieser Zeitpunkt noch weiter vorverlagert [...]. Nach der von Moskau proklamierten Annexion der vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson können Wehrpflichtige in diesen Gebieten auch offiziell für den Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, ohne dass es sich insofern aus russischer Sicht um einen Auslandseinsatz handelte [...]. Insofern gelten keine gesetzlichen Einschränkungen für den Einsatz Wehrdienstleistender [...].

43 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Kläger nach Ableistung des einjährigen Wehrdienstes automatisch zum Teil der Reserve würde, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine sich nochmals erhöhte [...].

45 (3) Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger nach § 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG internen Schutz innerhalb der Russischen Föderation erlangen könnte. [...]

46 Zwar könnte der Kläger sich durch die Einreise in einen anderen Landesteil den seit Mai 2022 in Tschetschenien beobachteten Zwangsrekrutierungen entziehen [...]. Die reguläre Einberufung zum Wehrdienst drohte ihm allerdings unabhängig von seinem Wohnsitz innerhalb der gesamten russischen Föderation. [...].

47 (4) Vor diesem Hintergrund ist es für die Entscheidung unerheblich, dass auch das Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger im Asylverfahren gefälschte Beweismittel i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vorgelegt hat. [...]

51 Allein die Verletzung des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG genügt aber nicht für die Ablehnung eines inhaltlich begründeten Antrags und steht der Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter daher nicht entgegen. [...]