VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 26.07.2024 - 4 L 326/24 A - asyl.net: M32636
https://www.asyl.net/rsdb/m32636
Leitsatz:

"Mutwilligkeit" i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfordert Absicht die Identität zu verschleiern

"1. Das Tatbestandsmerkmal des "mutwilligen" Vernichtens oder Beseitigens in § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG verlangt neben dem aktiven Tun (Beseitigen oder Vernichten), dass der entsprechende Akt "mutwillig" erfolgte. Dies setzt die Absicht voraus, durch die entsprechende Handlung die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit zu verhindern. Der Offensichtlichkeitsausspruch ist nach neuer Rechtslage daher nur dann gerechtfertigt, wenn der Schutzsuchende durch die Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuschen will.

2. Dem minderjährigen Kind kann ein "mutwilliges" Vernichten von Identitäts- oder Reisedokumenten i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG durch seine sorgeberechtigten Eltern nicht zugerechnet werden. Das mit dem sofortigen Verlust des (vorläufigen) Bleiberechts verbundene "Offensichtlichkeitsverdikt" nach § 30 AsylG kommt nämlich nur bei einer groben persönlichen Pflichtwidrigkeit des Schutzsuchenden in Betracht. Die sonst im Verfahrensrecht vorgesehene Zurechnung von Vertreterverschulden scheidet hier aus."

(Amtliche Leitsätze. AA VG Düsseldorf: Beschluss vom 27.05.2024 – 22 L 1091/24.A – asyl.net: M32528)

Schlagwörter: Asylverfahren, offensichtlich unbegründet, Pass, Identitätsfeststellung, minderjährig, Zurechenbarkeit, Mutwilligkeit
Normen: AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

7 Die Ablehnung des Asylantrags der Antragsteller als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG in der ab dem 27. Februar 2024 geltenden Fassung des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21. Februar 2024 (BGBl. I 2024 Nr. 54) wird sich nach summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtswidrig erweisen. Schon dieser Umstand allein rechtfertigt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 16. Oktober 2023 – VG 4 L 437/23 A – S. 2f. des amtlichen Entscheidungsabdrucks). Nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Schutzsuchende ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

8 Nicht ausreichend ist hierfür, dass die Antragstellerin zu 1. gegenüber dem Bundesamt erklärt hat, sie hätte ihre Reisepässe den Schleusern gegeben und diese hätten die Reisepässe zerstört. Die Neufassung von § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfasst die nach bisheriger Rechtslage in § 30 Abs. 1 Nr. 2 und 5 AsylG a.F. geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit, durch Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments (vgl. BT-Drucks. 20/9463, S. 56). Die Regelung in § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG a.F. setzte voraus, dass der Antragsteller seiner Obliegenheit zuwiderläuft, seine Identität und Staatsangehörigkeit wahrheitsgemäß darzulegen (vgl. zur a.F.: Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 30 AsylG Rn. 37; Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 40. Edition, Stand: 1. Januar 2024, § 30 AsylG Rn. 41). Das Tatbestandsmerkmal des "mutwilligen" Vernichtens oder Beseitigens verlangt neben dem aktiven Tun (Beseitigen oder Vernichten), dass der entsprechende Akt "mutwillig" erfolgte. Dies setzt die Absicht voraus, durch die entsprechende Handlung die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit zu verhindern. Der Offensichtlichkeitsausspruch ist nach neuer Rechtslage daher nur dann gerechtfertigt, wenn der Schutzsuchende durch die Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuschen will (VG Berlin, Beschlüsse vom 28. Juni 2024 – VG 35 L 216/24 A – S. 4 des amtlichen Entscheidungsabdrucks, vom 17. April 2024 – VG 3 L 236/24 A – S. 3, des amtlichen Entscheidungsabdrucks, und vom 15. April 2024 – VG 4 L 227/24 A – S. 3 des amtlichen Entscheidungsabdrucks). Dies ist hier jedoch nicht erkennbar.

9 Die Entscheidung, ihre Reisepässe zu vernichten, hat die Antragstellerin zu 1. nicht getroffen, um ihre Identität und Staatsangehörigkeit zu verschleiern, sondern vielmehr auf Anraten der Schleuser. Auch das Bundesamt hat offenbar weder Zweifel an ihrer Identität noch an ihrer Staatsangehörigkeit. Auch legte die Antragstellerin zu 1. Kopien ihres Reisepasses und ihres Personalausweises vor, sodass es dem BAMF ohne weitere Nachforschungen möglich war, die Identität und Staatsangehörigkeit hinreichend sicher festzustellen. Vor diesem Hintergrund bestehen hier keine durchgreifenden Zweifel an der Identität oder Staatsangehörigkeit der Antragsteller, welche durch ihre Reisepässe hätten im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG beseitigt werden können. Daher liegt hier auch kein Fall des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vor, welcher eine offensichtliche Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit durch die Zurückhaltung von Dokumenten voraussetzen würde.

10 Im Übrigen stünde der Ablehnung des Antrags des minderjährigen Antragstellers zu 2. als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG entgegen, dass er seinen Reisepass nicht selbst vernichtet hat. Das mit dem sofortigen Verlust des (vorläufigen) Bleiberechts verbundene "Offensichtlichkeitsverdikt" nach § 30 AsylG kommt nämlich nur bei einer groben persönlichen Pflichtwidrigkeit des Schutzsuchenden in Betracht. Die sonst im Verfahrensrecht vorgesehene Zurechnung von Vertreterverschulden scheidet hier aus (vgl. VG Regensburg, Beschluss vom 3. September 2013 – RO 9 S 13.30394 – juris, Rn. 14). [...]