VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 11.04.2024 - 3 K 534/22.A - asyl.net: M32628
https://www.asyl.net/rsdb/m32628
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender FGM im Senegal: 

1. Der Klägerin droht im Senegal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung in Form schwerster Verletzungen des Körpers und der sexuellen Selbstbestimmung. In den ost- und südsenegalesischen Provinzen ist die weibliche Genitalverstümmelung weit verbreitet (in der Provinz Kedougou bis zu 90 %). 

2. Weder der Staat, noch ein anderer Akteur ist in der Lage, effektiven Schutz zu bieten. Die Strafverfolgung ist im Ergebnis ineffektiv und die Generalprävention funktioniert nicht. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Senegal, Fulla, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, FGM, Frauen,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6
Auszüge:

[...]

Der Klägerin droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Es besteht nach Auffassung der erkennenden Einzelrichterin bei umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine beachtliche Wahrscheinlichkeit schwerster Verletzungen des Körpers und der sexuellen Selbstbestimmung der Klägerin. Im Senegal wird weibliche Genitalverstümmelung noch immer von einigen Ethnien praktiziert, obwohl sie seit 1999 gesetzlich verboten ist. Laut Terre des Femmes (12/2019) sind 24 % der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren betroffen und der Eingriff wird meist an sehr jungen Mädchen durchgeführt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Senegal als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 4. Mai 2021, S. 14). Während die zentralsenegalesischen Regionen die tiefsten Raten von FGM verzeichnen, ist die Praxis dagegen in den ost- und südsenegalesischen Regionen Matam, Tambacounda, Kolda, Sedhiou und Ziguinchor besonders prävalent (über 60%) und am stärksten in der Region Kedougou (über 90%) verbreitet, wobei die FGM an Mädchen vor allem im ländlichen Milieu und dort im Geheimen stattfindet (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderkurzinformation Senegal, Weibliche Genitalverstümmelung (FGM), Stand: 02/2024, S. 5 f.). Bei der Ethnie der Fulla, der die Klägerin angehört, lag die Prävalenzrate 2019 für die Altersgruppe 15-49 Jahren bei 54,3 % [...]. Die Beschneidungsrate unter muslimischen Frauen ist signifikant höher als jene bei Christinnen [...]. Die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM ist höher, wenn die Mutter selbst genitalbeschnitten wurde und je niedriger das Bildungsniveau der Mutter und der familiäre Wohlstand sind [...]. Die Mutter der Klägerin stammt aus einem Dorf in der Region Tambacounda, ist sunnitisch-islamischen Glaubens und selbst beschnitten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die alleinerziehende Mutter der Klägerin, die selbst nie die Schule besucht hat und aus ärmlichen Verhältnissen stammt, eine Genitalverstümmelung entgegen der örtlichen und familiären Praxis wirksam verhindern könnte. Sie hat glaubhaft geschildert, dass in ihrem Heimatdorf alle jungen Mädchen auf Betreiben des Dorfältesten hin beschnitten werden. Eine Entscheidungsgewalt der Eltern bestehe nicht, was sich mit den vorliegenden Erkenntnismitteln deckt, wonach die Eltern nicht die alleinige Entscheidungsgewalt über die Anwendung von FGM haben. Zwar könnten vor allem die Väter in manchen Fällen Einfluss darauf nehmen, da diese in der Regel den Eingriff bezahlen. Die Entscheidung würde jedoch in der Regel von den Großmüttern getroffen, die sie unabhängig von den Anschauungen und Meinung der Mutter auch gegen den Willen der Eltern beschließen und durchführen [...]. Das im vorliegenden Fall die Entscheidung offenbar vom Dorfältesten getroffen wird, führt zu keinem anderen Ergebnis.

Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass weder der Staat Senegal noch ein anderer in Betracht kommender Akteur in der Lage ist, den Schutz der Klägerin an ihrem Herkunftsort zu gewährleisten, § 3c Nr. 3, 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Dies verdeutlicht bereits die - trotz staatlichen Verbots und gewisser Strafverfolgungsbemühungen in berichteten Einzelfällen - enorme Prävalenz der weiblichen Genitalverstümmelung von 60% bis 79% in der Herkunftsregion der Klägerin. Die staatlichen Stellen sind nicht effektiv in der Lage, der Klägerin Schutz vor Verfolgung zu bieten. Dies umso mehr, als die Beschneidung der Mädchen vom Dorfoberhaupt initiiert wird. Die Strafverfolgung ist im Ergebnis ineffektiv und die Generalprävention funktioniert nicht. In einem von der UN am 16. Dezember 2022 veröffentlichten und vom UN-Ausschuss gegen Folter erstellten Bericht wird erwähnt, dass in FGM praktizierenden Gemeinden FGM-Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden [...]. Dazu, ob staatliche Einrichtungen, allen voran das Ginddi-Zentrum in Dakar, von FGM bedrohte Mädchen und Frauen unterbringen, versorgen und auch adäquat schützen würden, liegen keine Informationen vor. Jedenfalls verfügt auch diese Einrichtung nur über begrenzte Kapazitäten und eine eingeschränkte Bleibedauer für dort Aufhältige [...]. Es konnten auch keine Informationen gefunden werden, ob von FGM bedrohte Personen nichtstaatliche Schutz- und Unterkunftsangebote zur Verfügung stehen und vor allem, ob der Einfluss von nichtstaatlichen Stellen und ihre verfügbaren Ressourcen ausreichen, um wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu bieten. [...]