Anordnung der Vormundschaft bei zweifelhaftem Alter:
"Ruhen der elterlichen Sorge und Anordnung der Vormundschaft bei einem aus Afghanistan stammenden Betroffenen, dessen Alter zweifelhaft ist
1. Zur Beschwerdebefugnis des Jugendamts nach §§ 59 Abs. 3, 162 Abs. 3 Satz 2 FamFG in einem Verfahren auf Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge
2. Die Frage, bis wann eine Person minderjährig ist und daher eines Vormundes bedarf, ist nach internationalem Privatrecht selbständig anzuknüpfen und entscheidet sich nach dem in Art. 7 Abs. 2 EGBGB normierten Geschäftsfähigkeitsstatut.
3. Ist in tatsächlicher Hinsicht fraglich, ob der Betroffene noch minderjährig ist, hat sich das Gericht unter Ausschöpfung aller verfahrensrechtlich möglichen und zulässigen sowie nach den Umständen veranlassten Aufklärungsmöglichkeiten nach Möglichkeit Gewissheit bezüglich des tatsächlichen Alters des Betroffenen zu verschaffen. Lassen sich danach gleichwohl Zweifel an der Volljährigkeit nicht ausräumen, ist grundsätzlich zugunsten des Betroffenen von dessen Minderjährigkeit auszugehen.
4. Fehlt es an einer zuverlässigen Telefonverbindung, genügen gleichwohl stattfindende gelegentliche Telefonate mit der in Afghanistan lebenden Mutter nicht, um davon ausgehen zu können, dass diese ihrer Sorgeverantwortung zuverlässig nachkommen kann."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
12 Gemäß § 1674 BGB ist bezüglich des Betroffenen das Ruhen der elterlichen Sorge beider Elternteile festzustellen und nach § 1773 BGB eine Vormundschaft einzurichten.
13 1. Die Beschwerde des Jugendamtes … ist zulässig.
14 a) Die in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates [...].
15 Die für die Anwendung der Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO erforderliche Minderjährigkeit des Betroffenen ist zwar zweifelhaft. Die Frage seiner Minderjährigkeit ist jedoch gleichzeitig notwendige Voraussetzung der vom Jugendamt begehrten Anordnung von Vormundschaft. Bei sogenannten doppelrelevanten Tatsachen, d.h. solchen Tatsachen, die sowohl die Zuständigkeit wie auch den verfolgten Anspruch begründen, ist für die Zuständigkeitsfrage die Richtigkeit des Vortrags des Rechtsuchenden zu unterstellen [...].
17 2. In der Sache ist gemäß Art. 15 Abs. 1 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ) deutsches Recht anzuwenden (BGH vom 20.12.2017 - XII ZB 333/17, juris Rn. 20). Nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ gilt das lex fori-Prinzip. Ist die Zuständigkeit eines Vertragsstaates begründet, wendet dieser sein eigenes Recht an. [...]
19 3. Danach findet in der Sache § 1674 Abs. 1 BGB Anwendung. [...]
24 Die Geschäftsfähigkeit einer Person unterliegt gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 1 EGBGB dem Recht des Staates, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. [...] Danach tritt Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein, § 2 BGB.
25 [...] Gemäß Art. 12 Abs. 1 GFK bestimmt sich das Personalstatut jedes Flüchtlings nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes. [...]
27 (1) Ist in tatsächlicher Hinsicht fraglich, ob der Betroffene noch minderjährig ist, hat sich das Gericht gemäß § 151 Abs. 1 Nr. 5 FamFG i.V.m. § 26 FamFG unter Ausschöpfung aller verfahrensrechtlich möglichen und zulässigen sowie nach den Umständen veranlassten Aufklärungsmöglichkeiten nach Möglichkeit Gewissheit bezüglich des tatsächlichen Alters des Betroffenen zu verschaffen [...]. Lassen sich danach gleichwohl Zweifel an der Volljährigkeit nicht ausräumen, ist grundsätzlich zugunsten des Betroffenen von dessen Minderjährigkeit auszugehen [...].
29 (a) Nach dem schlüssig und überzeugend begründeten Altersbestimmungsgutachten des Sachverständigen … vom 07.02.2024 lag das Mindestalter des Betroffenen zum Untersuchungszeitpunkt am 01.02.2024 bei 17,1 Jahren. [...]
32 Die vom Sachverständigen diagnostizierten Altersminima betragen somit 16,1 und 17,1 Jahre, wobei das höchste Altersminimum das Mindestalter der untersuchten Person determiniert. Danach war der Betroffene am 01.02.2024 mindestens 17,1 Jahre als und wird somit spätestens zum Jahresende 2024 das 18. Lebensjahr vollendet haben.
33 (b) Ein höheres Alter des Betroffenen zum Untersuchungszeitpunkt lässt sich auch aufgrund sonstiger Umstände nicht feststellen.
34 (aa) Das äußere Erscheinungsbild des Betroffenen bildet keine verlässliche Grundlage zur Altersbestimmung. Es gibt insoweit keine eindeutigen und zwingenden Merkmale, anhand derer festzustellen wäre, ob eine Person noch minderjährig oder bereits volljährig ist. [...]
35 (bb) Die Volljährigkeit des Betroffenen kann auch nicht aufgrund der in seiner Tazkira enthaltenen Angaben festgestellt werden. [...]
Danach wäre der Betroffene im Jahr 1386 (nach dem afghanischen Kalender) geboren. [...] Der … 1386 des afghanischen Kalenders entspricht dem … 2007. Sollte es sich hierbei um das Geburtsdatum des Betroffenen handeln (und nicht lediglich am … 1400 festgestellt worden sein, dass der Betroffene 14 Jahre alt ist), wäre dieser am … 1403 17 Jahre alt geworden. [...] Das Geburtsdatum … 2007 kann zwar nicht zutreffen, weil es mit den vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen, wonach der Betroffene bereits am 01.02.2024 mindestens 17,1 Jahre alt war, nicht zu vereinbaren ist. Der Tazkira ist aber jedenfalls nicht zu entnehmen, dass der Betroffene bereits volljährig wäre. [...]
40 b) Die elterliche Sorge beider Eltern ruht, weil diese die elterliche Sorge auf längere Zeit tatsächlich nicht ausüben können, § 1674 Abs. 1 BGB.
41 aa) Eine längere tatsächliche Verhinderung an der Ausübung der elterlichen Sorge liegt vor, wenn ein Elternteil die Sorgerechtsverantwortung ganz oder in Teilbereichen tatsächlich nicht mehr selbst wahrnehmen kann [...]. Die Eltern sind regelmäßig an der Ausübung der Sorge verhindert, wenn entweder deren Aufenthalt unbekannt ist oder aufgrund der Situation im Herkunftsland kein Kontakt hergestellt werden kann [...]. Die physische Abwesenheit stellt indes per se kein Ausübungshindernis dar, wenn der Elternteil - sei es durch den anderen Elternteil, sei es durch sonstige Hilfskräfte bei der Ausübung der elterlichen Sorge - seine Kinder gut versorgt weiß und auf der Grundlage moderner Kommunikationsmittel oder Reisemöglichkeiten auch aus der Ferne Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge nehmen kann [...]. Bei der Beurteilung, ob trotz der räumlichen Trennung eine Einflussnahme der Eltern auf das Kind mittels verlässlicher Kommunikation stattfinden kann, sind unter anderem Unruhen und eine unsichere politische Lage im Heimatland sowie nicht gewährleistete Stabilität von Internet- und Telefonverbindungen zu berücksichtigen [...].
42 bb) Gemessen daran können die Eltern im vorliegenden Fall die elterliche Sorge auf längere Zeit nicht ausüben.
43 Der Vater ist schon deshalb längerfristig an der Ausübung der Sorgerechtsverantwortung gehindert, weil sein Aufenthalt unbekannt ist.
44 Von der Mutter ist zwar bekannt, dass sie sich in der Provinz … in … aufhält, und es besteht grundsätzlich regelmäßiger Telefonkontakt zwischen ihr und dem Betroffenen. Dies ist indes nicht ausreichend, um eine zuverlässige Einflussmöglichkeit der Mutter zu gewährleisten. Am Wohnort der Mutter in … besteht den glaubhaften Angaben des Betroffenen zufolge keine zuverlässige Telefonverbindung, so dass Telefongespräche nur dann erfolgen können, wenn die Mutter sich in der Provinz … aufhält und den Betroffenen von dort aus anruft. Für den Betroffenen selbst besteht keine Möglichkeit, seine Mutter zu kontaktieren. Eine postalische Erreichbarkeit besteht nicht. Unter diesen Umständen kann weder der Betroffene die Mutter über das Erfordernis sorgerechtlicher Entscheidungen informieren noch kann die Mutter - in Ermangelung einer stabilen Telefonverbindung an ihrem Wohnort - ihrer Sorgeverantwortung zuverlässig nachkommen. [...]
46 5. Zum Vormund wird gemäß § 1774 Abs. 1 Nr. 4 BGB das Jugendamt des Landkreises … als Amtsvormund bestellt. [...]
47 6. Aus Gründen der Rechtsklarheit besteht vorliegend Anlass, das Ende der Vormundschaft festzusetzen [...]. Das Gericht ist aufgrund des Sachverständigengutachtens vom 07.02.2024 davon überzeugt, dass der Betroffene spätestens mit Ablauf dieses Jahres volljährig sein wird. [...]