Keine Gruppenverfolgung sunnitischer Turkmenen im Irak:
Junge, männliche Personen sunnitischer Religionszugehörigkeit, turkmenischer Volkszugehörigkeit aus Tal Afar, denen mit diesem Profil generalisiert Unterstützung des IS vorgeworfen wird, stellen keine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Zudem fehlt es an der erforderlichen Intensität und Häufigkeit von Verfolgungshandlungen gegenüber Turkmenen im Irak.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
20 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. [...]
21 I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Ausgehend von den flüchtlingsrechtlich relevanten Maßstäben (1.) begründet allein die Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Turkmenen oder zur Glaubensgemeinschaft der Sunniten nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung; die Beweiserleichterung bei Gruppenverfolgung kommt auch nicht für denjenigen jungen sunnitischen Mann aus Tal Afar in Betracht, dem mit diesem Profil generalisiert Unterstützung des sog. IS vorgeworfen wird (2.). [...]
33 Die ausgewerteten Erkenntnismittel lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass bei einer Gesamtzahl von ca. 400.000 (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 05.06.2024, S. 21) bis 2 Millionen [...] alle Turkmenen unterschiedslos und ohne das Hinzutreten weiterer Bedingungen oder Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der Zugehörigkeit zu dieser Ethnie (§ 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG) verfolgt werden. Die Verfolgungsmaßnahmen erreichen kein solches Ausmaß, welches die Annahme rechtfertigen würde, es bestünde für jeden Turkmenen die aktuelle Gefahr, einer staatlichen oder nichtstaatlichen Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG ausgesetzt zu sein. Dies betrifft den Aspekt einer vom Staat ausgehenden Verfolgung ebenso wie eine Verfolgung durch private Akteure bzw. eine – beides umfassende – Gesamtbetrachtung unter Einschluss aller Verfolgungshandlungen.
34 Turkmenen stellen die drittgrößte Ethnie des Irak dar. Angaben zur Bevölkerungszahl der Turkmenen unterscheiden sich – wie oben dargestellt – massiv. [...] Etwa 60 % der Turkmenen sind Sunniten, der Rest Zwölfer-Schiiten bzw. Angehörige anderer schiitischer Konfessionen. Turkmenen aus der Region Ninewa sind traditionell Schiiten. Rund 30.000 Turkmenen sind Christen. Tal Afar wird von schiitischen und sunnitischen Turkmenen bewohnt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 05.06.2024, S. 21; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, Version 8, 28.03.2024, S. 183 f.).
35 Als der sog. IS 2014 an Größe und Macht gewann, wurden turkmenische Gebiete gezielt angegriffen [...]. Im Zuge des Vormarsches des sog. IS kam es zu kollektiven Vertreibungen auch von Turkmenen. Die Mehrheit der schiitischen Turkmenen floh, während viele Sunniten geblieben sind. Die vertriebenen schiitischen Turkmenen aus Tal Afar und anderen Distrikten leben nun größtenteils im Süden des Irak. Die meisten von ihnen konnten noch nicht in ihre Häuser zurückkehren. Tal Afar blieb bis 2017 unter IS-Kontrolle. Insbesondere schiitische Turkmenen wurden zum Ziel von Angriffen des sog. IS, wie z. B. in seinen Kampagnen gegen die mehrheitlich schiitisch-turkmenischen Städte Tal Afar und Amerli. Etwa 1.300 Turkmenen wurden entführt, darunter 470 Frauen und 130 Kinder. Etwa 800 davon wurden getötet, während der Rest weiterhin verschollen ist. Nach anderen Angaben waren Ende 2021 noch immer 900 vom sog. IS entführte schiitische und sunnitische Turkmenen vermisst [...]. 2017 flohen viele sunnitische Turkmenen im Zuge der Rückeroberung des IS-Gebietes. Sunnitische Turkmenen wurden bei außergerichtlichen Hinrichtungen durch irakische Sicherheitskräfte ermordet. Es gab auch Berichte über willkürliche und rechtswidrige Verhaftungen, Erpressungen und Entführungen von Turkmenen in Ninewa. Turkmenen aus Kirkuk werfen der Verwaltung Diskriminierung vor [...].
36 Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung konfessioneller oder ethnischer Minderheiten durch irakische staatliche Behörden findet nicht statt [...]. In inhaltlicher Übereinstimmung hiermit heißt es in einem Paper der Friedrich-Ebert-Stiftung (Dr. Ali Taher Al-Hamoud, Iraqi Turmmen: The Controversy of Identity and Affiliation, August 2021, vorgelegt durch den Kläger): "Perhaps the internal political division among Turkmens and their place on the margins of the three major players (Shiites, Sunnis, and Kurds) make the people of this ethnic group feel weak and excluded without that necessarily being the reality on the ground, given the historical feelings of marginalization and suspicion that have characterized Turkmen culture generally for years. The Turkmens generally acknowledge that there is no 'unjust' legislation against them within the Iraqi state, but they carry with them decades-old complaints about previous actions, especially during the Baath era" (dort S. 17 f.). Allerdings können solche Minderheiten im Alltag gesellschaftliche Diskriminierung erfahren, gegen die sie der irakische Staat nicht schützen kann, dies insbesondere durch Volksmobilisierungskräfte (andere Begriffe: Popular Mobilization Forces/Units (PMF/U) oder al-Haschd asch-Schaʿbī) oder die Behörden der Kurdischen Regionalregierung (KRG), die Minderheiten, darunter Turkmenen, Araber, Jesiden, Shabak und Christen, in Gebieten, die sowohl von der KRG als auch von der föderalen Regierung im Norden des Landes beansprucht werden, diskriminieren. Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver sog. IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS-Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch die PMF [...]. Die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) führt dazu weiter aus: "In Ninewa province, Sunni Turkmen were targeted by PMF at checkpoints and asked for PMF clearance in order to obtain government documentation. It is reported that Shia-backed PMF militia committed physical abuses on Sunni civilians as a reprisal for ISIL crimes against Shias. In November 2022, allegations were raised by Sunni representatives in the parliament over the PMF preventing displaced Sunnis in Salah al-Din, Diyala, and Ninewa Province to return to their areas of origins" (EUAA, Country Focus Iraq, May 2024, S. 32).
37 In der Region Ninewa, zu der der Heimatort des Klägers Tal Afar gehört, wurden im Dezember 2023 vier sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und neun Verletzten verzeichnet. Je zwei Vorfälle werden dem sog. IS und pro-iranischen Gruppen zugeschrieben. Die ACLED-Datenbank berichtet für Januar und Februar 2024 in der gesamten Region Ninewa von 70 Vorfällen (monatlicher Durchschnitt von 35). Es gab einen Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5), ohne Opfer. Mit 54 Angriffen geht der weitaus größte Anteil der registrierten Vorfälle auf Angriffe der türkischen Streitkräfte zurück. Diese Angriffe waren grundsätzlich gegen PKK-Ziele gerichtet. In einem Fall wurden jedoch KDP-Peshmerga und in zwei Fällen irakische Zivilisten getroffen, wobei es jeweils Todesopfer gab [...]. Im Distrikt Tal Afar wurden im Jahr 2023 16 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,33), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,17) mit Todesopfern, sowie eine friedliche Demonstration. Von den übrigen Vorfällen werden drei Angriffe dem sog. IS zugeschrieben. Die übrigen Vorfälle verteilen sich auf nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen. In Tal Afar wurde bis Februar 2024 ein Zwischenfall registriert (monatlicher Durchschnitt von 0,5) (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, Version 8, 28.03.2024, S. 88). Im Distrikt Mossul – wo die Familie des Klägers bis heute lebt – wurden im Jahr 2023 62 Vorfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 5,17), darunter 14 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,17), wobei es in acht Fällen zivile Tote gab. In den Monaten Januar und Februar 2024 wurden in Mossul vier Vorfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 2), darunter ein Fall von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5), ohne Opfer [...].
38 Unter Zugrundelegung dieser Auskunftslage fehlt es an der erforderlichen Intensität und Häufigkeit von Verfolgungshandlungen gegenüber Turkmenen im Irak. [...]
40 Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergeben sich keine Hinweise, dass die hierfür erforderliche kritische Verfolgungsdichte erreicht sein könnte. Es trifft zwar zu, dass Sunniten immer wieder wegen ihrer Glaubensrichtung stigmatisiert werden [...]. Auch werden viele Sunniten verdächtigt, den sog. IS zu unterstützen und fürchten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie in ihre Häuser in den früher vom sog. IS kontrollierten Gebieten zurückkehren. Im November 2022 berichteten sunnitische Parlamentsabgeordnete, dass PMF-Kräfte und mit ihnen und Iran verbündete Milizen vertriebene Sunniten in den Gouvernements Salah ad-Din, Diyala und Ninewa weiterhin an der Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete hindern. Da sich schiitische Milizen vielfach in Dörfern militärisch sowie wirtschaftlich festgesetzt haben, fürchten viele sunnitische Flüchtlinge eine Rückkehr [...]. Die allgemeine Lage der Sunniten im Irak ist aber nicht ernst genug, um eine systematische Verfolgung oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begründen [...].
43 bb) Dies zugrunde gelegt, fehlt der vom Kläger bezeichneten Gruppe der "jungen, männlichen Personen sunnitischer Religionszugehörigkeit, turkmenischer Volkszugehörigkeit, aus Tal Afar stammend, denen mit diesem Profil generalisiert Unterstützung des IS vorgeworfen wird" im Irak eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Zwar bilden Turkmenen und Sunniten aus dem Irak an die Merkmale Rasse und Religion anknüpfende Gruppen, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (s.o.). Einer hieraus gebildeten Untergruppe vermag eine solche deutlich abgegrenzte Identität jedoch nicht zukommen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die vom Kläger vorgenommene lokale Einschränkung der Gruppenzugehörigkeit auf Personen aus Tal Afar. [...]