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VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 22.01.2024 - A 10 K 4360/23 - asyl.net: M32551
https://www.asyl.net/rsdb/m32551
Leitsatz:

Ein Ausweisungsinteresse steht familiären Belangen entgegen: 

1. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung stehen familiäre Belange im Sinne des § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht entgegen, wenn ein Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliegt. 

2. Ein Rechtsverstoß im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist nur dann unbeachtlich, wenn er vereinzelt und geringfügig ist; letzteres ist bei einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen nicht mehr der Fall. 

3. Es liegt eine fehlerhafte Ermessensausübung vor, wenn das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG auf 30 Monate festgesetzt wird und damit die Möglichkeit einer Familienzusammenführung langfristig ausgeräumt wird. Ausländern, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten leben, muss eine angemessene Rückkehrperspektive eröffnet werden. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, Ablehnungsbescheid, Rückkehrentscheidung, Schutz von Ehe und Familie, offensichtlich unbegründet, Ausweisungsinteresse, Visumsverfahren, familiäre Belange, Einreise- und Aufenthaltsverbot
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 2 S. 3
Auszüge:

[...]

a) Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG lediglich voraus, dass der Asylantrag des Betroffenen insgesamt erfolglos war.

Dies ist hier der Fall. Wie vorstehend ausgeführt, hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers zu Recht abgelehnt und ist auch nicht verpflichtet, zu seinen Gunsten ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festzustellen. Schließlich besitzt der Kläger auch keinen Aufenthaltstitel.

b) Da die Abschiebungsandrohung jedoch eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG [...] (Rückführungsrichtlinie, im Folgenden: RFRL) darstellt [...], ergeben sich weitergehende Anforderungen aus dem Unionsrecht [...]. Insoweit trifft der Vortrag des Klägers im Ansatz zu.

Gemäß Art. 5 RFRL berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der RFRL in gebührender Weise: a) das Wohl des Kindes, b) die familiären Bindungen, c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein. Nach Art. 6 Abs. 1 RFRL erlassen die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

Nach Art. 9 Abs. 2 RFRL können die Mitgliedstaaten die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere a) die körperliche oder psychische Verfassung der betreffenden Drittstaatsangehörigen; b) technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten oder Scheitern der Abschiebung aufgrund von Unklarheit über die Identität.

c) Auch unter Berücksichtigung dieser unionsrechtlichen Anforderungen erweist sich die Abschiebungsandrohung jedoch als rechtmäßig.

Selbst wenn die Berücksichtigung der familiären Belange des Klägers voraussetzen sollte, dass die Beklagte bei Erlass oder Aufrechterhalten einer Abschiebungsandrohung die aufenthaltsrechtliche Situation eines Asylbewerbers insgesamt - auch in Bezug auf inlandsbezogene Abschiebungsverbote - zu prüfen hätte, ergäben sich hieraus keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung. Denn der Kläger kann aus der Eheschließung mit einer tunesischen Staatsangehörigen derzeit kein Aufenthaltsrecht und auch keinen längerfristigen Duldungsanspruch ableiten.

Für den Zuzug zur ausländischen Ehefrau kommt zwar grundsätzlich ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Betracht. Dem steht jedoch - ungeachtet weiterer derzeit ungeklärter Voraussetzungen - bereits die fehlende Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen. Ein Absehen hiervon ist aufgrund des vorherigen Asylverfahrens ausgeschlossen, da dem Kläger dann kein gebundener Anspruch zusteht und die Erteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG greift. Auch die Ausnahme nach § 39 Nr. 4 AufenthV wird dem Kläger nicht zugute kommen, da die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht gesichert vorliegen. Dies gilt namentlich für das Nichtbestehen eines Ausweisungsinteresses (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) angesichts der jüngeren Verurteilung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen durch das Amtsgericht ... am ... 2022 wegen ... [...], die ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bedingt.

Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, andererseits aber immer dann beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Geringfügigkeit ist kein absoluter Begriff, sondern erfordert eine wertende und abwägende Beurteilung, insbesondere der Begehungsweise, des Verschuldens und der Tatfolgen. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig. Nur unter engen Voraussetzungen kann es bei vorsätzlich begangenen Straftaten Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß als geringfügig zu bewerten ist [...]. Soweit hierbei eine Untergrenze der Geringfügigkeit für vorsätzliche Straftaten vertreten wird [...], ist diese bei einer Strafe von 40 Tagessätzen überschritten.

Da dem ausländischen Ehepartner die Ausreise zur Nachholung des Visumsverfahrens grundsätzlich zumutbar ist [...], kommen auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG oder eine entsprechende längerfristige Duldung nicht in Betracht. [...]

5. Hingegen ist die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in Ziff. 7 des Bescheides rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Zwar sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG gegeben. Jedoch hat die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen bei der Bestimmung der Länge der Frist nicht fehlerfrei ausgeübt. Die - zum nach § 77 Abs. 1 AsylG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - bestehende Ehe mit einer in Deutschland aufenthaltsberechtigten Tunesierin wäre als schützenswerter Belang in die Ermessensausübung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss Ausländern, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten leben, eine angemessene Rückkehrperspektive eröffnet werden [...]. Auf den Kläger angewendet bedeutet dies, dass die Perspektive, zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft wieder nach Deutschland einzureisen, zumindest in den Blick genommen werden muss, auch wenn sie in ihrem Gewicht durch die Möglichkeit, die Ehe in Tunesien zu führen, gemindert sein kann. [...]