Zum Umfang der personellen Prognosebasis bei unzulässigem Asylantrag:
1. Der Gefahrenprognose mit Blick auf eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im anderen Mitgliedstaat ist eine realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Es ist daher zu unterstellen, dass die Kernfamilie im Familienverband zurückkehrt, selbst wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt wurde.
2. Einer anerkannt schutzberechtigten Familie mit zwei jungen Kindern wird es bei Rückkehr nach Italien nicht ausreichend sicher möglich sein, ihre Grundbedürfnisse, insbesondere nach einem sicheren Obdach, durch eigene Erwerbstätigkeit oder durch Inanspruchnahme karitativer Leistungen zu befriedigen.
(Leitsätze der Redaktion, Leitsatz 1 unter Bezug auf OVG Thüringen, Urteil vom 20.12.2023 – 2 KO 425/23, anderer Ansicht: VGH Bayern, Urteil vom 04.03.2024 - 24 B 22.30376 - asyl.net: M32242)
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU [...] - der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist - dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, [...] einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bzw. des Art. 3 EMRK zu erfahren […].
Der Prognose ist in diesem Rahmen eine realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 16; zur Übertragbarkeit auf sogenannte Drittstaatenfälle vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 7. Juli 2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 31). [...]
In personeller Hinsicht sind bei der Prognose zur Rückkehrsituatlon nicht nur die Angehörigen der Kernfamilie zu berücksichtigen, die selbst Adressaten einer Rückkehrentscheidung sind (a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 4. März 2024 - 24 B 22.30376 - juris Rn. 27 ff.), sondern es muss in Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr in das Herkunftsland [...] bei der Betrachtung der möglichen Existenzsicherung und etwaiger Vulnerabilitäten unterstellt werden, dass die Kernfamilie im Familienverband zurückkehrt, selbst wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist […].
Anerkannt Schutzberechtigte haben grundsätzlich einen Anspruch auf Unterbringung in einer der sogenannten SAI-Einrichtungen (Sistema di Accoglienza e Integrazione) [...].
Der Anspruch auf Unterbringung in einer SAI-Einrichtung besteht grundsätzlich für sechs Monate, in besonderen Fallen ist die Verlängerung des Aufenthalts auf 12 Monate bis maximal 18 Monate möglich [...]. Das Recht auf Zugang zu einer SAI-Einrichtung erlischt nach einer Anweisung des Innenministeriums vom 5. August 2019 zudem dann, wenn die Einrichtung für länger als drei Tage verlassen worden ist [...]. Nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte werden dabei genauso behandelt wie solche, die die SAI-Einrichtungen verlassen haben, ohne das Land zu verlassen [...].
Nach Ablauf der maximalen Aufenthaltsdauer in den SAl-Einrichtungen oder nach Erlöschen des Anspruchs auf Aufnahme aus anderen Gründen erhalten anerkennt Schutzberechtigte in der Regel keine staatliche Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft mehr [...].
Regelmäßig können anerkannt Schutzberechtigte keinen hinreichenden Verdienst erzielen, um die Anmietung einer Wohnung auf dem freien Markt finanzieren zu können (BFA 2023, S. 11). Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar grundsätzlich gleich italienischen Staatsbürgern Zugang zum privaten Arbeitsmarkt. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass der tatsächliche Zugang zum Arbeitsmarkt weniger von der Qualifikation der arbeitssuchenden Person abhängt als davon, ob auf private Netzwerke zurückgegriffen werden kann. Der Markt, auf dem anerkannt Schutzberechtigte tatsächlich Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben, ist demnach häufig auf Netzwerke von Menschen aus demselben Herkunftsland begrenzt. [...]
Hinzu kommt, dass anerkannt Schutzberechtigten Sozialleistungen häufig tatsächlich nicht zur Verfügung stehen [...].
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse Ist das Gericht nicht überzeugt davon, dass die Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Italien zusammen mit der 2022 Nachgeborenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ihre Grundbedürfnisse werden befriedigen können […].
Zwar nimmt die Rechtsprechung zu Recht im Allgemeinen an, dass arbeitsfähige und gesunde erwachsene Schutzberechtigte in Italien trotz des Fehlens oder der Nichterreichbarkeit staatlicher Unterstützung nach Verlassen des Aufnahmesystems ihre Grundbedürfnisse mit Hilfe der Unterstützung von karitativen Einrichtungen und mit Hilfe zumutbarer Bemühungen um ein eigenes Einkommen befriedigen können [...]. Eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit rechtfertigt für sich genommen noch nicht die Annahme einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not. Eine Verletzung des Art. 4 GRCh ist jedoch dann in Betracht zu ziehen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen. So ist eine täglich wechselnde Unterbringung in Notunterkünften oder die zumindest zeitweilige Obdachlosigkeit jedenfalls Familien mit Kleinkindern wie den Antragstellern nicht zumutbar, wenn man die speziellen Bedürfnisse von Kindern und ihre extreme Verletzlichkeit gemäß der Tarakhel-Rechtsprechung hinreichend beachtet. Familien mit Kindern müssen so untergebracht sein, dass nicht eine traumatische, von Stress und Angst geprägte Situation eintritt [...]. Eine solche Situation ließe sich aber bei einer täglich wechselnden und stets ungewissen Unterbringung in Notunterkünften und der Gefahr einer - auch nur zeitweiligen - Obdachlosigkeit nicht vermeiden.
Den Antragstellern zu 1 und 2 dürfte es im Übrigen auch nicht möglich sein, die Grundbedürfnisse der Familie, insbesondere nach einem sicheren Obdach, durch eigene Erwerbstätigkeit oder durch Inanspruchnahme karitativer Leistungen zu befriedigen. [...] Die für anerkannt Schutzberechtigte und auch den Antragsteller zu 1 verfügbaren Arbeitsplätze auf dem Land und im informellen Sektor stellen hinsichtlich Zeitaufwand und Flexibilität einerseits erhebliche Anforderungen und erbringen andererseits nicht hinreichend Erwerbslohn für die Versorgung einer vierköpfigen Familie. [...] Eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden über eine Unterbringung der Antragsteller, die die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh ausschlösse, liegt nicht vor [...]. Diese muss jedoch vorab eingeholt werden, um in die Gefährdungsprognose zur Rückkehr eingestellt werden zu können. [...]