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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 28.05.2024 - 6 L 171/24 V - asyl.net: M32543
https://www.asyl.net/rsdb/m32543
Leitsatz:

Anordnungsgrund für Geschwisternachzug mit Eltern wegen baldiger Volljährigkeit der Referenzperson:

Es ist mit dem Kindeswohl unvereinbar, ein 13 Jahre altes, ohne weitere Familienangehörigen außerhalb seines Herkunftslandes lebendes Kind durch Ablehnung des Visumsantrags vorübergehend von seinen Eltern zu trennen. Es ist den Eltern ferner nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist, weil der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils mit Erreichen der Volljährigkeit der Referenzperson in Deutschland untergeht.

(Leitsätze der Redaktion; zum Anordnungsanspruch, insbesondere dem Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung, unter Bezug auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2023 - 3 S 117/23 - asyl.net: M32101)

Schlagwörter: Geschwisternachzug, einstweilige Anordnung, Familienzusammenführung, Kindeswohl,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 36a
Auszüge:

[...]

1-3 Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –, mit dem der 13-jährige syrische Antragsteller begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen, hat Erfolg. [...]

5 1. Ein Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 32 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. Danach ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers unter anderem dann eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a AufenthG besitzen. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall glaubhaft gemacht, auch wenn die Eltern eine solche Aufenthaltserlaubnis noch nicht besitzen. Denn trotz der formalen Differenzierung zwischen Visum und Aufenthaltserlaubnis als unterschiedliche Formen eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) reicht in einem Fall wie dem hier vorliegenden der elterliche Besitz eines nationalen Visums bzw. der Anspruch darauf als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn der Zuzug gemeinsam erfolgen und die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll [...].

8 Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ihm die fehlende Lebensunterhaltssicherung im Hinblick auf Art. 6 Abs.1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entgegengehalten werden kann. Die Visumerteilung ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit geboten, um die familiäre Gemeinschaft des Antragstellers mit seinen Eltern als Kernfamilie aufrecht zu erhalten, denn die Antragsgegnerin hat den Eltern ein Visum nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Nachzug zu ihrem anderen im Bundesgebiet lebenden Sohn – dem Bruder des Antragstellers – erteilt. Diese Lebensgemeinschaft kann infolge des dem Bruder zuerkannten internationalen Schutzes grundsätzlich nur im Bundesgebiet geführt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2023, a.a.O., Rn. 16, 21). Eine auch nur vorübergehende Trennung des Antragstellers von seinen Eltern kommt im Hinblick auf sein Alter – er ist gegenwärtig 13 Jahre alt – und den Aufenthalt außerhalb Syriens, nämlich im Irak, wo keine weiteren Familienangehörigen leben, nicht in Betracht, weil dies mit dem Kindeswohl unvereinbar wäre.

9 Dies gilt umso mehr, als die Dauer einer Trennung – etwa bis zu einer den Nachzug uneingeschränkt rechtfertigenden Zuerkennung internationalen Schutzes für die Eltern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bis zu einer Erzielung ausreichender eigener Einkünfte der Eltern durch Erwerbstätigkeit – nicht sicher zu prognostizieren ist. Der Antragsteller kann nicht für eine ungewisse Zeit in Erbil ohne Eltern bleiben. Es ist den Eltern ferner nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist, weil der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils mit Erreichen der Volljährigkeit des Bruders des Antragstellers, mithin mit Ablauf des ... Juni 2024 untergeht [...].

11 2. Ein Anordnungsgrund hinsichtlich des minderjährigen Antragstellers folgt aus der Zeitgebundenheit des Anspruchs seiner Eltern aufgrund der am ... 2024 eintretenden Volljährigkeit der Referenzperson und deren damit unmittelbar bevorstehender Einreise. [...]