Zur Auslegung der "erheblichen Wahrscheinlichkeit" bei Asylfolgeanträgen:
1. Bei der Prüfung eines Asylfolgeantrages in der neuen Fassung vom 27. Februar 2024 ist nunmehr erforderlich, dass neue Erkenntnisse oder Elemente zutage getreten sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung beitragen. Bei der Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, sind sowohl von den Antragsteller*innen vorgebrachte Tatsachen als auch anderweitig zutage getretene Erkenntnisse zu berücksichtigen.
2. Der Begriff der "erheblichen Wahrscheinlichkeit" ist eng auszulegen. Neue Elemente bzw. neue Erkenntnisse führen bereits dann mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung, wenn die neuen Erkenntnisse bzw. die neuen Elemente möglicherweise entscheidungserheblich sind.
3. Der Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer günstigeren Entscheidung steht auch nicht entgegen, dass die dem Antragsteller ursprünglich zuerkannte Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer verhängten Freiheitsstraße von 20 Monaten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Mittäterschaft widerrufen wurde.
4. Die intensivierte Rekrutierungspraxis des eritreischen Staates stellt eine neue Erkenntnis dar, die jedenfalls in Kombination mit den voraussichtlich unmenschlichen Bedingungen, unter denen der militärische Teil des eritreischen Nationaldienstes abzuleisten ist, möglicherweise zu einer Schutzgewährung in Form von subsidiärem Schutz führt.
(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-18/20 XY gg. Österreich (Asylmagazin 12/2021, S. 434 ff.) - asyl.net: M29993; EuGH, Urteil vom 10.06.2021 - C-921/19, LH gg. die Niederlande (Asylmagazin 9/2021, S. 335 f.) - asyl.net: M29713; siehe auch OVG Sachsen, Urteil vom 19.07.2023 - 6 A 178/21.A - asyl.net: M31866)
[...]
2 a) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage, § 80 Abs. 5 VwGO, gegen die Abschiebungsandrohung ist zulässig, da der Antrag insbesondere statthaft ist und fristgemäß gestellt wurde, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3, 4 und 75 Abs. 1 AsylG .
3 b) Der Antrag ist auch begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen. [...]
6 Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der seit 27. Februar 2024 maßgeblichen rechtsgültigen Fassung ist ein weiteres Asylverfahren nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags auf einen erneuten Asylantrag hin nur durchzuführen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen, oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind und der Ausländer ohne eigenes Verschulden außerstande war, die Gründe für den Folgeantrag im früheren Asylverfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
7 aa) Ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel hat der Staat Eritrea seit dem Ausbruch des Krieges in der T.-Region im November 2020 die Zwangsrekrutierungsmaßnahmen intensiviert und dabei unter anderem auch Minderjährige, Reservisten sowie vom Nationaldienst freigestellte Personen zum Militärdienst eingezogen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, 15.6.2023, u.a. S. 8 ff.). Bei dieser Erkenntnis handelt es sich um eine neu zutage getretene Erkenntnis, da diese nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 14. Februar 2019 (Gz. … …) vorlag. Dass der Antragsteller die intensivierte Rekrutierungspraxis nicht selbst geltend gemacht hat, ist unschädlich, da das Gericht – und zuvor auch das Bundesamt – bei der Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, sowohl vom Antragsteller vorgebrachte Erkenntnisse als auch anderweitig zutage getretene Erkenntnisse zu berücksichtigen hat, zu denen auch das oben genannte Erkenntnismittel zählt, das dem Bundesamt bereits zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Folgeantrag des Antragstellers vorlag. Angesichts der – mangels gegenteiliger Anhaltspunkte – fehlenden Kenntnis des Antragstellers von der intensivierten Rekrutierungspraxis des eritreischen Staates kann dem Antragsteller auch nicht entgegengehalten werden, dass er diese Umstände nicht bereits früher geltend gemacht hat. [...]
9 (1.) Die intensivierte Rekrutierungspraxis des eritreischen Staates stellt eine neue Erkenntnis dar, die jedenfalls in Kombination mit den voraussichtlich unmenschlichen Bedingungen, unter denen der militärische Teil des eritreischen Nationaldienstes abzuleisten ist [...], möglicherweise zu einer Schutzgewährung in Form von subsidiärem Schutz für den Antragsteller, dem die Einziehung in den militärischen Nationaldienst droht, führt [...], so dass es sich um eine neue Erkenntnis handelt, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung für den Antragsteller führen kann.
10 (2.) Dass für Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung genügt, dass die neue Erkenntnis möglicherweise entscheidungserheblich ist, folgt aus der gebotenen engen Auslegung.
11 (a) Bei der Auslegung der Begrifflichkeit "erhebliche Wahrscheinlichkeit", die auf Art. 40 Abs. 2 RL 2013/32/EU zurückgeht, ist zunächst die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dieser Vorschrift zu berücksichtigen.
12 Ausweislich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu dieser Vorschrift soll sich die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags darauf beschränken, ob neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die im Rahmen der Entscheidung über den früheren Asylantrag nicht geprüft worden sind und auf die diese bestandskräftige Entscheidung daher nicht gestützt werden konnte, während eine Bewertung der Elemente und Erkenntnisse bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags zu einer Vermengung der unterschiedlichen Etappen des Verfahrens führen würde (U. v. 9.9.2021 – C-18/20 – Rn. 42; U. v. 10.6.2021 – C-921/19 – Rn. 50 f.).
13 Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Ablehnung eines Antrags als unzulässig eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt, einen solchen Antrag in der Sache zu prüfen, weshalb die Gründe, aus denen ein Antrag als unzulässig abzulehnen, eng auszulegen sind (U. v. 8.2.2024 – C-216/22 – Rn. 34 f.). Denn die Möglichkeit der Ablehnung eines Folgeantrags rührt daher, dass der Europäische Gesetzgeber es für unverhältnismäßig hielt, jeden Folgeantrag in der Sache prüfen zu müssen, und zwar auch dann, wenn sich der Antragsteller auf irgendeinen neuen Umstand oder irgendeine neue Erkenntnis beruft, unabhängig von deren Relevanz für die Schutzgewährung; infolgedessen sind neue Erkenntnisse und Elemente bereits dann zu berücksichtigen sind, wenn sie für die Beurteilung der Begründetheit eines Antrags maßgeblich erscheinen (vgl. U. v. 8.2.2024 – C-216/22 – Rn. 50 f.). [...]
15 (c) Für eine restriktive Auslegung der Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig spricht schließlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur bisherigen Fassung des § 71 AsylG – der die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens von dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig machte –, wonach aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG ein Folgeantrag nur dann als unzulässig abgelehnt werden durfte, wenn die neuen Tatsachen "von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet" waren, "zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Anerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen" (so BVerfG, B. v. 4.12.2019 – 2 BvR 1600/19 – BeckRS 2019, 32778 Rn. 21). 16 (d) Infolgedessen ist es geboten, den Begriff "erhebliche Wahrscheinlichkeit" eng auszulegen, wobei nach Auffassung des Gerichts die Frage, ob ein Element bzw. eine Erkenntnis mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung beiträgt, bereits dann zu bejahen ist, wenn die neue Erkenntnis bzw. das neue Element möglicherweise entscheidungserheblich ist.
17 (3.) Der Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung steht schließlich auch nicht entgegen, dass die dem Antragsteller ursprünglich zuerkannte Flüchtlingseigenschaft aufgrund der mit Urteil des Amtsgerichts München vom 16. April 2018 (272 Js …) verhängten Freiheitsstraße von 20 Monaten wegen versuchter gefährliche Körperverletzung in Mittäterschaft widerrufen wurde. [...]