VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 13.06.2024 - 10 B 1953/24 - asyl.net: M32538
https://www.asyl.net/rsdb/m32538
Leitsatz:

Zur Neuregelung offensichtlich unbegründeter Asylanträge: 

"1. Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG n. F. hat einen engeren Anwendungsbereich als die frühere Generalklausel in § 30 Abs. 1 AsylG a. F.

2. Die Neuregelung in § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfasst nur Konstellationen, in denen die Asylrelevanz des Vorbringens des Antragstellers bereits ohne vorherige Prüfung der Glaubhaftigkeit und der Übereinstimmung seines Vorbringens mit aktuellen Informationen zum Herkunftsland abzulehnen ist.

3. Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen "offensichtlich unwahrscheinlicher Angaben" verlangt wie auch die anderen Tatbestandsvarianten die fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens, unabhängig von dessen Asylrelevanz.

4. Eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein aufgrund einer gesteigerten Überzeugungsgewissheit der entscheidenden Stelle über die Erfolgsaussichten des Asylbegehrens ist nach der neuen Regelung nicht mehr möglich, sondern die Angaben des Antragstellers müssen nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 AsylG entweder offensichtlich banal oder nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offensichtlich unglaubhaft sein."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Côte d’Ivoire, Asylverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Rückführungsverbesserungsgesetz,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, § 36 Abs. 1 und Abs. 3, § 74 Abs. 1, § 75 S. 1 VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, ist zulässig, insbesondere fristgerecht gestellt, und begründet. [...]

Ein unbegründeter Asylantrag ist nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in der Form der Neufassung vom 27.02.2024 als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. Mit Art. 2 des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21.02.2024 (BGBl. 2024 I Nr. 54) wurden die vorher geltende Generalklausel in § 30 Abs. 1 AsylG a.F. wie auch die Fallgruppen der rein wirtschaftlichen Gründe und einer allgemeinen Notsituation als Aufenthaltsmotive in § 30 Abs. 2 AsylG a.F. aufgehoben. Die neue Fassung der Vorschrift dient der Umsetzung der Regelung in Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie [...] für beschleunigte Asylverfahren und Grenzverfahren [...] und ähnelt im Wortlaut auch dem im April 2024 vom Europäischen Parlament beschlossenen, aber noch nicht in Kraft getretenen Art. 39 Abs. 4 i.V.m. Art. 42 Abs. 1 Asylverfahrensverordnung [...] für beschleunigte Prüfungsverfahren.

Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Neuregelung in § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG die bisher von § 30 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG a. F. geregelten Fälle ebenfalls umfasst, dass die Neufassung den Regelungsbereich des § 30 AsylG also (von der Aufhebung des bisherigen § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG a. F. abgesehen) lediglich ausweitet [...]. Diese Annahme ist angesichts des veränderten und nunmehr konkreter gefassten Wortlauts des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht berechtigt. Schon vor der Neufassung gingen mehrere Verwaltungsgerichte davon aus, dass § 30 Abs. 1 AsylG a. F. einschränkend dahingehend auszulegen sei, dass er nur für die von Art. 31 Abs. 8 Buchst. a der Asylverfahrensrichtlinie erfassten Fälle gelte [...], dass Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie also nicht inhaltsgleich mit § 30 Abs. 1 AsylG a. F. war [...].

Nach Art. 30 Abs. 1 AsylG a.F. war ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorlagen. Er war nach § 30 Abs. 2 AsylG a. F. insbesondere dann offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich war, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhielt. Nach § 30 Abs. 2 AsylG a.F. war also ein nicht asylrelevanter, insbesondere auf wirtschaftliche Gründe beschränkter Vortrag des Asylbewerbers notwendig für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet. § 30 Abs. 1 AsylG a.F. war dagegen auf die "Anerkennung" bzw. die "Zuerkennung" und damit auf das Ergebnis der Einzelfallprüfung bezogen formuliert. Über die Fälle von sonstigem (nicht unter § 30 Abs. 2 AsylG a. F. fallenden) nicht asylrelevanten Vortrag hinaus ermöglichte die Generalklausel eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet mithin vor allem in solchen Konstellationen, in denen das Bundesamt seine Entscheidung erst treffen konnte auf Grundlage einer Prüfung des Vorbringens des Antragstellers auf Glaubhaftigkeit und der Würdigung seines Vortrags durch Abgleich mit den verfügbaren Informationen über die aktuelle Situation im Herkunftsland.

Der neue § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist hingegen nicht ergebnisbezogen formuliert, sondern stellt ab auf die Relevanz des Vorbringens des Asylbewerbers für die "Prüfung" des Asylantrags. Die neue Regelung ist mithin ausschließlich verfahrensbezogen und der eigentlichen Prüfung vorgelagert. Die Bedeutung der vom Asylantragsteller vorgetragenen Umstände kann - und muss - bereits beurteilt werden ohne vorherige Prüfung der Glaubhaftigkeit wie auch der Übereinstimmung des Vorbringens mit aktuellen Erkenntnismitteln zu Gefahren im Herkunftsland. Die Entscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG setzt damit keine vollständige Erforschung des Sachverhalts mehr voraus [...]. Die Voraussetzung der Ablehnung als offensichtlich unbegründet ist nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n. F. nicht ein Offensichtlichkeitsurteil in Form gesteigerter Überzeugungsgewissheit wie noch in § 30 Abs. 1 AsylG a.F., sondern in Form der Entbehrlichkeit einer Prüfung des Vorbringens mangels - auch nur potenzieller - Asylrelevanz. In die Prüfung des Vorbringens einzusteigen ist etwa entbehrlich, wenn der Asylantragsteller angibt, er habe sein Herkunftsland aus rein wirtschaftlichen Gründen verlassen (wie zuvor in § 30 Abs. 2 AsylG a. F. geregelt), für bessere Bildungschancen, um in Deutschland wieder mit Familienmitgliedern vereint zu sein, oder aufgrund von Schwierigkeiten, welche nicht die Schwelle von Verfolgungshandlungen bzw. die eines ernsthaften Schadens oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung überschreiten.

Trägt der Asylantragsteller hingegen asylrelevante Gefahren vor und erachtet das Bundesamt diesen Vortrag als unglaubhaft, so ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht gem. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, sondern nur gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zulässig, der wie zuvor § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG a. F. widersprüchliche Angaben sanktioniert. Auch § 30 Abs. 1 Nr. 2 Var. 3 AsylG, der eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet zulässt, wenn der Ausländer "offensichtlich unwahrscheinliche Angaben" gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, verlangt die fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens, unabhängig von dessen potenzieller Asylrelevanz. Das ergibt sich zum einen aus dem systematischen Zusammenhang mit den anderen Tatbestandsvarianten (unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche Angaben). Zum anderen folgt dies aus dem Wortlaut, weil demnach die Angaben selbst - das heißt die geschilderte Verfolgungsgeschichte - und nicht eine auf Grundlage dieser Angaben und der Herkunftslandinformationen zu treffende positive Gefahrenprognose "offensichtlich unwahrscheinlich" sein müssen. [...]

Eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein aufgrund einer gesteigerten Überzeugungsgewissheit der entscheidenden Stelle über die Erfolgsaussichten des Asylbegehrens ist nach der neuen Regelung somit nicht mehr möglich, sondern die Angaben des Antragstellers müssen nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 AsylG entweder offensichtlich "banal" oder nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offensichtlich unglaubhaft sein. [...]