Pauschalbetrag und Zwangsgeld gegen Ungarn wegen fortgesetzter Vertragsverletzung
1. Ungarn hat der Vertragsverletzung, dass es Schutzuchenden verwehrt, wirksam (auch an den ungarischen Grenzen) einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, trotz der entsprechenden Feststellung im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 (C-808/18) nicht abgeholfen. Insoweit ist die Schließung der Transitzonen Röszke und Tompa nicht ausreichend. Vielmehr müssen die entsprechenden Rechtsvorschriften, die gemeinsam mit der ständigen Verwaltungspraxis einen effektiven Zugang zu einem Asylverfahren unmöglich machen, geändert werden.
2. Ungarn hat der Vertragsverletzung, dass es alle illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen, mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, abschiebt, ohne die erforderlichen Verfahren und Garantien einzuhalten, trotz der entsprechenden Feststellung im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nicht abgeholfen. Zur Rechtfertigung dieses Verstoßes kann Ungarn sich nicht auf etwaige praktische, administrative, finanzielle oder interne Schwierigkeiten berufen.
3. Ungarn hat der Vertragsverletzung, dass es Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, abseits einer akuten Krisensituation verwehrt, bis zum Ablauf einer Rechtsmittelfrist gegen eine ablehnende Entscheidung bzw. bis zur Entscheidung über ein entsprechendes Rechtsmittel im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, trotz der entsprechenden Feststellung im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nicht abgeholfen. Nationale Regelungen, die zusätzliche Voraussetzungen für den Verbleib aufstellen, sind zum einen grundsätzlich aufzuheben und darüber hinaus auch zu unkonkret.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
56 Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung nach Art. 260 Abs. 2 AEUV ist derjenige des Ablaufs der Frist, die in dem nach dieser Bestimmung versandten Aufforderungsschreiben gesetzt wurde (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C-109/22, EU:C:2023:991, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt beteiligten Stellen des betreffenden Mitgliedstaats verpflichtet sind, die nationalen Rechtsvorschriften, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsurteils waren, so zu ändern, dass sie mit den Anforderungen des Unionsrechts in Einklang gebracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C-615/20 und C-671/20, EU:C:2023:562, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]
62 Aus dem einleitenden Text von Tenor 1 geht hervor, dass es sich um einen Verstoß gegen die Verpflichtungen Ungarns aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 handelt.
63 Dieser Verstoß wurde aufgrund der in Tenor 1 erster Gedankenstrich geschilderten Konstellation festgestellt, in der die Vorgabe, dass Anträge auf internationalen Schutz von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die aus Serbien einreisen, in den Transitzonen von Röszke und Tompa gestellt werden müssen, mit einer ständigen und allgemeinen Verwaltungspraxis zusammentrifft, mit der die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen dürfen, drastisch beschränkt wird.
64 Der Gerichtshof entschied insoweit namentlich in Rn. 106 jenes Urteils, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gewährleisten müssen, dass die Betroffenen, wenn sie eine entsprechende Absicht bekunden, in der Lage sind, das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, auch an den Grenzen der Mitgliedstaaten wirksam auszuüben, damit dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann. Wie in Rn. 104 jenes Urteils festgestellt, besteht nämlich das eigentliche Ziel der Richtlinie 2013/32 und insbesondere ihres Art. 6 Abs. 1 darin, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz zu gewährleisten. [...]
66 Bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, also am 9. August 2021, war Ungarn dieser Anforderung jedoch nicht nachgekommen.
67 Entgegen dem Vorbringen Ungarns reicht insoweit die Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa nicht aus, um einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz zu gewährleisten. Zwischen den Parteien ist nämlich unstreitig, dass für den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist die Regelung des Gesetzes von 2020 galt. [...]
72 Als Zweites stellte der Gerichtshof zur Abschiebung illegal in Ungarn aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Tenor 1 dritter Gedankenstrich des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 fest, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verstoßen hat, dass es die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet hat, ohne die in den genannten Bestimmungen festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten.
73 Ungarn bestreitet nicht, dass § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen, der nach Rn. 254 jenes Urteils die nationale Bestimmung ist, die diese Feststellung rechtfertigte, bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, d. h. am 9. August 2021, immer noch in Kraft war. Es hält diese Situation jedoch wegen des Migrationsdrucks auf der "Westbalkan-Migrationsroute" und der Zahl der Vertriebenen aus der Ukraine für gerechtfertigt.
74 Ein Mitgliedstaat kann sich aber nicht auf praktische, administrative, finanzielle oder interne Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, Kommission/Slowakei [Recht auf kostenfreien Rücktritt], C-540/21, EU:C:2023:450, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Als Drittes ergibt sich in Bezug auf das Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in einer anderen Situation als einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und bei fristgemäßer Ausübung dieses Rechts bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, die Feststellung im Urteil Kommission/Ungarn von 2020, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen hat, aus Tenor 1 vierter Gedankenstrich dieses Urteils. [...]
77 Aus Rn. 297 jenes Urteils geht hervor, dass nach dem Vorbringen Ungarns die Voraussetzungen, auf die § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes Bezug nehme, darin bestehen, dass der Betroffene dem gesetzlich festgelegten Status als Antragsteller entsprechen müsse und darüber hinaus der ihm gegebenenfalls auferlegten Pflicht nachzukommen habe, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.
78 Wie in Rn. 298 des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 festgestellt, gab Ungarn aber zum einen nicht an, welche Vorschrift des Asylgesetzes genau bestimmen soll, dass das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats von der Einhaltung einer Voraussetzung in Bezug auf den Aufenthaltsort abhängig gemacht wird.
79 Zum anderen ist, wie in Rn. 300 jenes Urteils festgestellt, die in der Beachtung des gesetzlich festgelegten Status als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, bestehende Voraussetzung, von der, wie Ungarn selbst angab, das aus § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes resultierende Bleiberecht ebenfalls abhänge, diversen Auslegungen zugänglich und nimmt Bezug auf weitere, von Ungarn nicht konkretisierte Voraussetzungen.
80 Somit erfordert die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf den in Rede stehenden Verstoß unabhängig davon Änderungen der nationalen Regelung, dass, worauf sich Ungarn beruft, die ungarischen Behörden in der Praxis zu keiner Ausweisung schritten, solange die den Asylantrag ablehnende behördliche Entscheidung nicht bestandskräftig geworden sei. [...]
82 Bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, also am 9. August 2021, war aber § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes immer noch unverändert in Kraft, was von Ungarn nicht bestritten wird.
83 Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass es nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergeben. [...]