Verwertbarkeit eines unter Verfahrensfehlern entstandenen Altersgutachtens:
1. Die Pflicht zur Bestellung eines Vertreters gem. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU besteht immer schon dann, wenn eine Person in vertretbarer Weise behauptet, minderjährig zu sein. Fehlt die Bestellung eines solchen Vertreters, ist ein Altersgutachten dennoch verwertbar, denn eine Kausalität zwischen Verfahrensfehler und dem Ergebnis des Altersgutachtens ist nicht feststellbar. Es ist nicht ersichtlich, dass die Bestellung eines Vertreters die ärztliche Untersuchung im Ergebnis beeinflusst hätte.
2. Die Pflicht zur Bestellung eines Vertreters kann nicht unmittelbar aus Art. 8 EMRK abgeleitet werden. Die Implementierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedarf einer Anknüpfung an das anzuwendende Fachrecht.
3. Der Bescheid zur Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist rechtswidrig, weil es an der notwendigen Bestellung eines Vertreters fehlt. Der Bescheid ist aber wirksam, da eine Bekanntmachung auch ohne Vertreter aufgrund des Ergebnisses des Altersgutachtens allein gegenüber dem "Minderjährigen" erfolgen konnte.
4. Für ein Hauptsacheverfahren fehlt das Rechtsschutzinteresse (weiterhin vorläufig in Obhut genommen zu werden), da eine Rechtsverletzung des nunmehr Volljährigen für die Zukunft insoweit ausgeschlossen ist.
(Leitsätze der Redaktion, zur Pflicht der Bestellung eines Vertreters siehe VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2024 - 12 S 77/24 - asyl.net: M32349)
[...]
1 Die am 12.10.2023 bei dem Verwaltungsgericht Karlsruhe rechtzeitig eingelegte [...] und am 02.11.2023 fristgemäß begründete [...] Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den ihr am 04.10.2023 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.10.2023 hat Erfolg. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts wird geändert. Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt. [...]
10 Ausgehend hiervon ist die nunmehr festgestellte Volljährigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen. Aufgrund des rechtsmedizinischen Gutachtens zur Altersfeststellung vom 16.11.2023 ist nunmehr belegt, dass der Antragsteller mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit volljährig ist und nach den Referenzstudien zum Untersuchungszeitpunkt am … 2023 mindestens 21,6 Jahre alt war (vgl. Gutachten vom 16.11.2023, Gerichtsakte Bl. 158, 164). Dadurch hat sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.
11 Eine Erledigung des Rechtsstreits ist nicht ausgeschlossen, weil entgegen dem Verwaltungsgericht der Bescheid der Antragsgegnerin vom 25.07.2023 nicht nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X unwirksam ist, sondern lediglich rechtswidrig (aa)). Das rechtsmedizinische Gutachten zur Altersfeststellung vom 16.11.2023 ist zwar verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, es ist aber gleichwohl verwertbar (bb)).
12 aa) (1) Wie der Senat bereits in seiner Zwischenentscheidung, Beschluss vom 02.02.2024 - 12 S 1649/23 -, ausgeführt hat, ist der "Aufhebungsbescheid" vom 25.07.2023 - entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts (BA S. 4 f.) zum Zeitpunkt des angefochtenen Beschlusses - nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wirksam bekannt gegeben worden. Der Antragsteller war bei Bekanntgabe am 25.07.2023 nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB X zur Vornahme von Verfahrenshandlungen fähig, weil er nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig war. [...]
14 Der Bescheid ist (lediglich) rechtswidrig, weil er die Rechte des Antragstellers aus Art. 24 Abs. 1 UAbs 1 Satz 1 RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) verletzt. [...]
15 Entgegen dem Verwaltungsgericht (BA S. 5 f.) ergeben sich die verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht unmittelbar aus Art. 8 EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [...]. Das Verwaltungsgericht geht zwar zu Recht davon aus, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 21.07.2022 - 5797/17 - <Darboe und Camara gegen Italien> unter Bezugnahme auf Unionsrecht - insbesondere die Aufnahme- und die Verfahrensrichtlinie - sowie dies umsetzendes nationales Recht ausgeführt hat [...], dass einem minderjährigen Antragsteller zum Schutz seines Rechts auf Privatleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sofort ("promptly") ein gesetzlicher Vertreter oder Vertreter zu bestellen sei. Weiter geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf Grundlage der benannten Rechtsquellen davon aus, dass dem Ausländer im Fall von Zweifeln über dessen Minderjährigkeit unter anderem ein gesetzlicher Vertreter oder Vormund zu bestellen sei [...]. Ohne den oben dargestellten unionsrechtlichen Bezug, vorwiegend auf die Aufnahmerichtlinie, lassen sich die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Altersfeststellung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nicht begründen. Wenngleich sich die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht in einer auf den konkreten Lebenssachverhalt reduzierten Berücksichtigungspflicht erschöpft, sondern deren Leit- und Orientierungsfunktion über den konkret entschiedenen Lebenssachverhalt hinausgehen [...], bedarf die Implementierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einer Anknüpfung an das anzuwendende Fachrecht und muss möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale oder unionsrechtliche Rechtssystem eingepasst werden [...]. An einem solchen Anknüpfungspunkt fehlt es ohne die unionsrechtlichen Regelungen der Aufnahmerichtlinie, wie sie der Senat seinem Beschluss vom 09.04.2024 - 12 S 77/24 -, juris Rn. 13 ff., zugrunde gelegt hat. Art. 8 EMRK enthält keine Regelungen zum Vertretungserfordernis unbegleiteter Minderjähriger. Auch das nationale Recht sieht eine Regelung über die Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht vor [...].
16 Der unionsrechtlich begründete Verfahrensfehler führt indes nicht zur Unwirksamkeit des Bescheids der Antragsgegnerin vom 25.07.2023, denn das hier verletzte Unionsrecht regelt keine Wirksamkeitsvoraussetzungen des hier im Streit stehenden Verwaltungsaktes. Die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes nach § 42a i.V.m. § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist in § 39 SGB X geregelt. Danach wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird (Abs. 1 Satz 1). Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (Abs. 2). Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam (Abs. 3). Ausgehend hiervon ist der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin nicht unwirksam, denn er wurde dem (volljährigen) Antragsteller bekannt gegeben und weder zurückgenommen, widerrufen noch anderweitig aufgehoben. Bis zur Feststellung der Volljährigkeit hat sich der Bescheid auch nicht erledigt. Der Bescheid ist schließlich nicht im Sinne des § 40 SGB X nichtig. [...]
17 bb) Das rechtsmedizinische Gutachten zur Altersfeststellung vom 16.11.2023 ist zwar verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, es ist aber gleichwohl verwertbar.
18 Der Senat kann sich auf das von der Antragsgegnerin im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten zur Altersfeststellung stützen [...]. Die allgemeinen Grundsätze zur Verwertbarkeit von Beweismitteln sind in diesem Fall entsprechend anzuwenden. Weder in der Verwaltungsgerichtsordnung noch in der Zivilprozessordnung ist die Verwertung von verfahrensfehlerhaft erlangten Beweismitteln oder sind entsprechende Beweisverwertungsverbote geregelt. In der Rechtsprechung ist gleichwohl anerkannt, dass die Verwertung unzulässig erlangter Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen verboten ist [...]. Dies bedeutet, dass ein unzulässiges, das heißt in rechtswidriger Weise entstandenes oder erlangtes, Beweismittel nicht automatisch ein Verwertungsverbot nach sich zieht, sondern ausgehend von der verletzten Rechtsnorm zu beurteilen ist, welche Folgen der Verstoß hat. Ein Verwertungsverbot bei einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften bestünde dann, wenn das Ergebnis nicht ohne Weiteres in rechtmäßiger Weise hätte erlangt werden können [...]. Eine demnach erforderliche Kausalität zwischen Verfahrensfehler und dem Ergebnis des Altersgutachtens liegt hier nicht vor. Anders als die Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Wege einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einschließlich einer Befragung des Antragstellers, gründet die ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII im Fall des Antragstellers im Wesentlichen auf Auswertungen einer Panoramaschichtaufnahme des Gebisses vom 07.11.2023, einer Röntgenaufnahme der linken Hand vom 07.11.2023 und Computertomographie der brustbeinnahen Schlüsselbeinenden vom 07.11.2023 [...]. Es ist nicht ersichtlich, dass die Bestellung eines Vertreters im Sinne des Art. 24 Abs. 1 UAbs 1 Satz 1 RL 2013/33/EU die ärztliche Untersuchung im Ergebnis beeinflusst hätte. Auch der Antragsteller selbst hat das Altersgutachten inhaltlich nicht infrage gestellt [...]. Ausgehend von dem Sinn und Zweck des Vertreters im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU, wonach es sich um einen Verfahrensbeistand für die Durchführung der Verwaltungsverfahren und Maßnahmen nach der Aufnahmerichtlinie handelt, ist ferner nicht ersichtlich, dass sich hieraus eine Pflicht ergeben könnte, die Verwertung der durch das Altersgutachten gewonnen Erkenntnisse zu unterlassen.
19 cc) Der Antragsteller kann vorliegend sein Rechtsschutzziel, weiterhin vorläufig in Obhut genommen zu werden, nicht mehr erreichen, weil dies nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII seine Minderjährigkeit voraussetzt. Selbst wenn der volljährige Antragsteller im Hauptsacheverfahren zulässigerweise ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse geltend machen könnte, bestünde für ihn kein Rechtsschutzinteresse, weiterhin vorläufig in Obhut genommen zu werden, da eine Verletzung in seinen Rechten für die Zukunft insoweit ausgeschlossen ist. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der angefochtene Bescheid Grundlage für Vollstreckungsakte sein könnte. [...]