OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.06.2024 - 4 LA 21/24 - asyl.net: M32510
https://www.asyl.net/rsdb/m32510
Leitsatz:

Kindeswohl steht der Abschiebung eines Familienmitgliedes entgegen:

Der Abschiebung eines Familienmitgliedes steht das Kindeswohl auch entgegen, wenn sich das Kind im laufenden Asylverfahren befindet und keinen dauerhaften, rechtmäßigen Aufenthalt besitzt, denn aufgrund der unvorhersehbaren Dauer eines Asylverfahrens ist eine Trennung auf unabsehbare Zeit nicht ausgeschlossen. Es ist dabei unerheblich, ob das Kind selbst oder ein Elternteil Adressat*in der Rückkehrentscheidung ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329 und EuGH, Urteil vom 11.03.2021 - C-112/2020 M.A. gg. Belgien - asyl.net: M29423)

Schlagwörter: Aufenthaltsgestattung, Achtung des Familienlebens, Kindeswohl, Abschiebungsandrohung, Rückkehrentscheidung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 55, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. a, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. b, AufenthG § 59 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung betrifft die Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen bei Erlass einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung. [...]

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts (hinsichtlich seines stattgebenden Teils) zuzulassen, hat keinen Erfolg. [...]

Die Beklagte hat die Rechtsfrage aufgeworfen, [...] ob der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet "nur" gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist.

Wie der Gerichtshof in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 für Recht erkannt hat, ist Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und dass es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 28). Bereits zuvor hatte der Gerichtshof entschieden, dass es im Rahmen von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG nicht erheblich ist, ob Adressat der Rückkehrentscheidung der Minderjährige selbst oder eines seiner Elternteile ist (EuGH, Urt. v. 11.3.2021 - C-112/20 -, juris Rn. 33 ff.). Entsprechend dieser Vorgaben verlangt § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG in der seit dem 27. Februar 2024 geltenden Fassung (n.F.) als Voraussetzung für den Erlass einer schriftlichen Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG zusätzlich, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen entgegenstehen. Gleichlautend bestimmt § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F., dass die Abschiebung nur dann anzudrohen ist, wenn ihr u.a. weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen entgegenstehen; Anderes gilt nur im Falle der in dem ebenfalls neu gefassten § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG n.F. genannten Ausnahmen einer Ausreisepflicht des Ausländers auf Grund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung oder bei Anhängigkeit eines Auslieferungsverfahrens gegen ihn.

Einer durch den Vorrang des Unionsrechts gebotenen Nichtanwendung nationalen Rechts, wie sie das Verwaltungsgericht in seinem hier angegriffenen Urteil in Bezug auf § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG a.F. angenommen hat, bedarf es demgemäß nicht mehr. Die von der Beklagten als klärungsbedürftig angesehene Rechtsfrage würde sich in dem angestrebten Berufungsverfahren daher schon bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. stellen, der die Anforderungen von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG in nationales Recht umsetzt.

Die so verstandene Rechtsfrage lässt sich aber ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten [...]. Denn sie ist bereits in der Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt [...]. Ihre Bejahung ergibt sich aus dem von der Beklagten selbst angeführten Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris), nach dem es aus unionsrechtlicher Sicht gerade nicht genügt, wenn das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen erst in einem dem Erlass der Rückkehrentscheidung nachfolgenden Verfahren Berücksichtigung finden können. [...]

Dass ein Rechtsgrund für den Aufenthalt im Bundesgebiet auch die Durchführung eines Asylverfahrens ist, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 55 Abs. 1 Satz1 AsylG und entspricht darüber hinaus auch allgemeiner Auffassung [...]. Insoweit handelt es sich, wie die Beklagte in ihrem Zulassungsantrag selbst einräumt, um einen rechtmäßigen Aufenthalt. Warum, wie die Beklagte allerdings weiter meint, nur ein dauerhafter rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik berücksichtigungsfähig sein soll, erschließt sich nicht [...]. Für die Entscheidung, ob dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, ist nicht erheblich, ob der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds dauerhaft rechtmäßig oder - jedenfalls zunächst - nur auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt rechtmäßig ist [...]. Denn es ist gerade nicht ausgeschlossen, dass auch der unterschiedliche Verlauf der Asylverfahren von Familienmitgliedern zu einer Trennung auf unabsehbare Zeit führen kann. [...] Im Übrigen können zwar in die Prüfung, ob der Abschiebung eines Ausländers gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, auch die für die Verstetigung des rechtmäßigen Aufenthalts maßgebenden Erfolgsaussichten des Asylverfahrens des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds eingestellt werden. Dies ändert allerdings nichts daran, dass, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, die Trennung eines erst vierjährigen Kindes von seiner Mutter auf nicht absehbare Zeit zwingend zu verhindern ist. [...]