Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei fehlender krankheitsbedingter Lebensunterhaltssicherung:
1. Für die Anwendung der Ausnahmeregelung, wonach von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung abgesehen wird, wenn sie wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht erfüllt werden kann (§ 9 Abs. 2 Satz 3, 6 AufenthG), kommt es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung an. In der Vergangenheit liegende weitere Ursachen für das Fehlen der Lebensunterhaltssicherung schließen die Anwendung der Ausnahmeregelung nicht aus.
2. Selbst wenn man annähme, dass den antragstellenden Personen die fehlende Lebensunterhaltssicherung durch ihr Verhalten in der Vergangenheit zuzurechnen sei, kann bei der diesbezüglichen rückschauenden Betrachtung jedenfalls nicht auf Zeiträume abgestellt werden, die über den maßgeblichen Zeitraum des rechtmäßigen Voraufenthalts von fünf Jahren (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) hinausgehen.
3. Zur gerichtlichen Überzeugungsbildung über das Vorliegen von B1-Deutschkenntnissen kann ein vor einigen Jahren erfolgter Nachweis über A2-Deutschkenntnisse genügen, weil nach allgemeiner Lebenserfahrung ein jahrelanger Aufenthalt im Land die sprachlichen Kenntnisse noch weiter verbessert.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Kläger begehren die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung von Niederlassungserlaubnissen. [...]
Zur Begründung ihrer Klagen haben sie unter Vorlage zahlreicher ärztlicher Unterlagen im Wesentlichen geltend gemacht, dass der Kläger zu 1. seit August 2016 erwerbsunfähig und die Klägerin zu 2. aus gesundheitlichen Gründen bis auf Weiteres arbeitsunfähig sei.
Mit Bescheid vom 27. September 2016 hat der Beklagte [...] ausgeführt, dass die Erteilung von Niederlassungserlaubnissen derzeit mangels Sicherung des Lebensunterhalts nicht in Betracht komme. Unabhängig davon, dass weder die Pflichtbeitragszeiten oder freiwilligen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erbracht, noch andere Ansprüche auf vergleichbare Leistungen nachgewiesen seien, fehle es an der nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Lebensunterhaltssicherung. Die Klägerin zu 2. sei nicht erwerbstätig und der Kläger zu 1. habe lediglich einen befristeten Arbeitsvertrag, dessen Verlängerung ebenso ungewiss sei wie die Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses. [...]
Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie hat mit Bescheid vom 13. Dezember 2017 bei dem Kläger zu 1. das Bestehen eines Grades der Behinderung (GdB) von 40 ab dem 19. September 2017 festgestellt. [...]
Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung [...] haben für die Kläger jeweils eine Pflegebedürftigkeit nach dem Pflegegrad 3 festgestellt, für die Klägerin zu 2. mit Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) vom 19. Mai 2019 unbefristet seit dem 1. März 2019, für den Kläger zu 1. mit Gutachten vom 25. Juni 2019 ebenfalls unbefristet seit dem 1. Mai 2019.
Aufgrund einer [...] Stellungnahme des sozialärztlichen Dienstes der Deutschen Rentenversicherung vom 22. Juli 2019, die die Empfehlung enthält, bei ihm ab April 2019 für zwei Jahre von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen auszugehen und danach eine Reevaluierung durchzuführen, haben der Kläger zu 1. und die Deutsche Rentenversicherung Bayern Süd vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (Az. …) im September 2019 einen Vergleich dahingehend geschlossen, dass ihm aufgrund eines mit dem 24. April 2019 eingetretenen Leistungsfalles eine für den Zeitraum vom 1. November 2019 bis 31. Oktober 2021 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt wurde. [...]
Die Deutsche Rentenversicherung hat die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit mit Rentenbescheid vom 29. Juni 2021 zunächst bis zum 31. Oktober 2023 und mit Rentenbescheid vom 20. Oktober 2023 bis zum 31. Oktober 2025 verlängert [...].
Die Klage ist aber nur begründet, soweit die Klägerin zu 2. die Verpflichtung des Beklagten zur Bescheidung ihres Antrags begehrt. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Die Berufung der Kläger bleibt ohne Erfolg, soweit sie den mit ihr weiterverfolgten Antrag auf Verpflichtung zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis betrifft. [...] Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 26 Abs. 4 Satz 1, 2 AufenthG kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach dem fünften Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen oder nach § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 AufenthG von ihnen abzusehen ist. Da es sich um eine Ermessensregelung handelt, könnten die Kläger bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nur dann einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geltend machen, wenn das dem Beklagten eingeräumte Ermessen "auf Null" reduziert wäre. [...] Dafür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte. Insbesondere begründet das durch Art. 6 des Grundgesetzes (GG) geschützte Familienleben keine solche Ermessensreduzierung "auf Null", da die Kläger ihre familiäre Lebensgemeinschaft mit ihren drei minderjährigen Enkeln und ihrem minderjährigen deutschen Neffen, für die ihnen die Pflegschaft nebst wesentlichen Teilen des Sorgerechts übertragen wurde, auch ohne die Erteilung von Niederlassungserlaubnissen in Deutschland führen können. [...]
2. Soweit sie den im Antrag auf Verpflichtung zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch ohne insoweit ausdrücklich gestellten, regelmäßig aber als Minus enthaltenen Antrag auf Verpflichtung zur Neubescheidung betrifft, hat die Berufung der Klägerin zu 2. Erfolg. [...]
Die [...] rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis liegen zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung [...] nur bei der Klägerin zu 2. vor. [....]
a) Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 und § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis voraus, dass der Ausländer seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis besitzt.
aa) Der Kläger zu 1. erfüllt die Voraussetzung des § 26 Abs. 4 Satz 1 bzw. 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht, da er zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist. [...] Die Fiktionszeiten des § 81 Abs. 4 AufenthG sind den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aber nur dann gleichgestellt, wenn sie zur Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels geführt haben, mithin zwischen zwei Titelbesitzzeiten liegen, nicht aber, wenn - wie hier - das Bestehen eines Anspruchs auf Verlängerung oder Erteilung des Aufenthaltstitels noch streitig bzw. ungeklärt ist. [...]
bb) Die Klägerin zu 2. hingegen ist zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung seit fünf Jahren im Besitz eines humanitären Aufenthaltstitels im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, [...].
b) Die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr . 2 AufenthG erfüllen die Kläger nicht. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann [...]. Die Klägerin zu 2. war und ist nicht erwerbstätig und der Kläger zu 1. bezieht seit November 2019 Rente wegen voller Erwerbsminderung und aufstockend Sozialleistungen.
Von der nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Lebensunterhaltssicherung ist jedoch gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG abzusehen.
Nach § 9 Abs. 2 Satz 3, 6 AufenthG, der gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entsprechend gilt, wird von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt voraus, dass der Ausländer (nahezu) dauerhaft erwerbsgemindert ist, also - aufgrund einer Krankheit - (nahezu) dauerhaft nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zur Bestimmung der krankheits- oder behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit wird auf die sozialrechtlichen Bestimmungen über die (teilweise) Erwerbsunfähigkeit nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 und Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) zurückgegriffen, wonach teilweise erwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und voll erwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. Senatsurt. v. 16.7.2020 - 13 LC 41/19 -, juris Rn. 32). Dabei bedeutet "auf nicht absehbare Zeit" länger als sechs Monate (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.1.2021 - 2 L 102/19 -, juris Rn. 30 m.w.N.).
aa) Aufgrund der ihm von der Deutschen Rentenversicherung seit November 2019 bewilligten und mit Bescheid vom 20. Oktober 2023 erneut bis zum 31. Oktober 2025 verlängerten Rente wegen vollständiger Erwerbsminderung liegen diese Voraussetzungen bei dem Kläger zu 1. fraglos vor.
bb) Die Klägerin zu 2. ist seit dem 1. März 2019 ebenfalls dauerhaft erwerbsunfähig aus gesundheitlichen Gründen. Dies ergibt sich unter Anwendung der eingangs genannten Maßstäbe zur Überzeugung des Senats aus einer Gesamtschau der von den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung Niedersachsen [...] ab dem 1. März 2019 für die Klägerin festgestellten Pflegebedürftigkeit mit dem Pflegegrad 3 mit den Ausführungen des Gutachters im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vom 19. Mai 2019 [...], die zur Feststellung des Pflegegrades geführt haben.
Nach dem gutachterlichen Befund bestehen bei der Klägerin mit den Diagnosen nach ICD-10 depressive Episode mit Antriebsstörung (F32) und Harninkontinenz (N39.4) "kognitive Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses mit Vergesslichkeit und Merkfähigkeitsstörungen. Termine und Absprachen können nicht mehr selbstständig eingehalten werden. (…) Mit punktueller Hilfe werden Handlungsabläufe selbstständig umgesetzt. Einfache Sachverhalte und Informationen aus der Umgebung werden aufgenommen und logisch umgesetzt. Personen aus dem näheren Umfeld werden erkannt und können sicher zugeordnet werden. Es besteht kein ausreichender Antrieb und keine ausreichende Motivation zur selbstständigen Beschäftigung. (…)" [...]
Wenngleich sich das Pflegegutachten nicht zur Erwerbsfähigkeit der Klägerin zu 2. verhält, steht nach dem vom Gutachter gezeichneten Krankheitsbild, das durch eine selbst im häuslichen Umfeld überwiegend nur noch unselbstständig mögliche Lebensführung gekennzeichnet ist, zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin zur Ausübung einer geregelten Erwerbstätigkeit im Sinne der genannten sozialrechtlichen Maßstäbe [...] dauerhaft nicht in der Lage ist. [...]
dd) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist die vollständige Erwerbsminderung der Kläger auch kausal für die fehlende Lebensunterhaltssicherung. Der Umstand, dass die Kläger den Lebensunterhalt auch in der Vergangenheit nie vollständig durch Erwerbstätigkeit selbst gesichert, sondern regelmäßig zumindest aufstockende Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, weshalb davon ausgegangen werden müsste, dass sie auch unter Hinwegdenken ihrer vollständigen Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht in der Lage wären, steht der Einschlägigkeit von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht entgegen. Denn der Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass die in § 9 Abs. 2 Satz 6, 3 AufenthG genannten Gründe für die fehlende Lebensunterhaltssicherung allein und ausschließlich ursächlich sein müssen und in der Vergangenheit liegende weitere (Mit-)Ursachen die Anwendung der Ausnahmeregelung von vorneherein ausschließen, folgt der Senat nicht. Hinreichend ist vielmehr, dass der Ausländer die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 6, 3 AufenthG nicht erfüllen kann.
(1) Für das Vorliegen der Voraussetzungen sowohl eines Anspruchs als auch einer Ausnahmeregelung, nach der zwingend von einer einzelnen Anspruchsvoraussetzung abzusehen ist, kommt es grundsätzlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung über den Antrag an, wenn das materielle Recht keine abweichende Regelung enthält [...]. Für einen von diesem Grundsatz abweichenden Regelungswillen des Gesetzgebers gibt der Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG keinerlei Anhalt. Insbesondere die Formulierung im Präsens ("erfüllen kann") spricht für die Maßgeblichkeit gerade der gegenwärtigen Situation im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Gleiches gilt für die hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG anzustellende Prognose, ob der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist [...].
(2) Auch nach ihrem Sinn und Zweck ist die Norm nicht im Sinne einer alleinigen oder ausschließlichen Ursächlichkeit der in ihr aufgeführten Gründe zu verstehen. Nach der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 5. August 2004 (BT-Drs. 15/420, S. 72) wollte der Gesetzgeber mit dieser Ausnahmevorschrift den durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gebotenen besonderen Schutz von kranken und behinderten Menschen Rechnung tragen [...]. Eine rückschauende Betrachtung ist deshalb allein ein Aspekt bei der anzustellenden Prognose im Rahmen des § 2 Abs. 3 AufenthG, ob ohne unvorhergesehene Ereignisse in Zukunft gewährleistet erscheint, dass der Ausländer den Lebensunterhalt dauerhaft ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel aufbringen kann, betrifft aber nicht die Frage, ob der Tatbestand des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG bereits in der Vergangenheit hätte erfüllt werden können (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 15.10.2014 - 17 A 1150/13 - juris Rn. 67; VG Münster, Urt. v. 25.8.23 - 3 K 1371/20 -, juris Rn. 15 ff.; Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 9 Rn. 18 a. E.).
Zwar führt das Verwaltungsgericht zutreffend aus, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts [...] seien Ausnahmen von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich eng auszulegen [...]. Dennoch ist auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift, eine Belastung der öffentlichen Haushalte durch Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln zu verhindern [...], § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht darauf angelegt, eine fehlende Unterhaltssicherung in der Vergangenheit zu sanktionieren. Anderes gilt auch für die Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 3, 6 AufenthG nicht.
(3) Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 22. November 2016 (- BVerwG 1 B 117.16 u.a. -, juris Rn. 5) ausführt, aus der gesetzgeberischen Wertung, die Lebensunterhaltssicherung als Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen, folge, dass allein eine auf einem vorgerückten Lebensalter beruhende allgemeine Minderung der Leistungsfähigkeit - auch durch alterstypische Erkrankungen - keinen gesetzlich anerkannten Grund darstelle, vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts abzusehen, und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 13.4.2021 - 3 M 30/21 -, juris Rn. 3) daraus wiederum folgert, dass aktuell vorliegende Erkrankungen für die fehlende Lebensunterhaltssicherung allein ursächlich sein müssten und insoweit eine rückwirkende Betrachtung der Erwerbsbiografie vornimmt, folgt der Senat dieser Auslegung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg nicht. Denn Ziel der Niederlassungserlaubnis ist es, Ausländern, die sich in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland bereits hinreichend integriert haben, durch Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts eine Aufenthaltsverfestigung zu gewähren. Gerade normsystematisch wird in den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwischen solchen unterschieden, die die wirtschaftliche Integration in der Vergangenheit betreffen (Nr. 3) oder für die Zukunft sichern sollen (Nrn. 2, 5 und 6). Dass die Integrationserwartung in wirtschaftlicher Hinsicht nicht erfüllt ist, nimmt er in den Fällen des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG ausdrücklich hin, gerade ohne daran anzuknüpfen, ob der Lebensunterhalt des Ausländers zu einem früheren Zeitpunkt gesichert war oder der Ausländer zumindest Anstrengungen hierzu unternommen hat. Durch die Schaffung der Ausnahmetatbestände wird deutlich, dass der Gesetzgeber nicht immer eine wirtschaftliche Vollintegration als Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung verlangt, sondern in bestimmten Fällen auch Teilintegrationsleistungen ausreichen lässt. Für dieses Verständnis spricht schließlich auch die Gesetzessystematik, setzt doch § 25b AufenthG, der eine taugliche Aufenthaltserlaubnis für eine Aufenthaltsverfestigung ist und schließlich in eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG münden kann, seinerseits keine vollständige Lebensunterhaltssicherung voraus, sondern lediglich eine positive Prognose für die Zukunft. Zudem können schuldhafte Versäumnisse bei der Lebensunterhaltssicherung in der Vergangenheit jedenfalls für die Zeiträume, für die die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3, 6 AufenthG nicht gilt, im Rahmen der nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Ermessensausübung berücksichtigt werden [...].
(4) Ein anderes Verständnis ergibt sich auch nicht aus einem Vergleich mit den einbürgerungsrechtlichen Vorschriften des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG), nach denen die fehlende selbstständige Lebensunterhaltssicherung auch bei aktueller Erwerbsminderung und einer daraus (mit-)resultierenden Inanspruchnahme von Sozial(hilfe)leistungen einer Einbürgerung entgegenstehen kann, wenn der Einbürgerungsbewerber in der Vergangenheit in einem solchen Maße gegen die Obliegenheit, durch Einsatz seiner Arbeitskraft für seine Lebensunterhaltssicherung, zu der auch die Altersversorgung zählt, vorzusorgen, verstoßen hat, dass ihm Fernwirkungen auf die spätere Lebensunterhaltssicherung im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG zuzurechnen sind, wobei es nicht darauf ankommt, dass der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug in vollem Umfang und ausnahmslos zu vertreten hat, vielmehr eine maßgebliche Mitursächlichkeit des Verhaltens des Einbürgerungsbewerbers in der Vergangenheit ausreicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.2.2009 - BVerwG 5 C 22.08 -, juris Rn. 15 ff.). Denn im Gegensatz zu § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist das Erfordernis des Nichtvertretenmüssens des Bezugs von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch schon nach dem Wortlaut der Norm in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG [...] enthalten. [...]
Unabhängig davon hat aber auch ein Einbürgerungsbewerber für ein ihm zurechenbares und für aktuelle Sozialleistungen mitursächliches Verhalten aufgrund des Gegenwartsbezugs des Vertretenmüssens des Leistungsbezugs in § 10 Abs.1 Satz 1 Nr. 3 StAG nach Ablauf einer Frist von acht Jahren nicht mehr einzustehen. [...]. Für eine solche Gewichtsveränderung abwägungserheblicher Belange allein durch Zeitablauf spricht etwa der Umstand, dass auch Verurteilungen wegen Straftaten nach Ablauf der Tilgungsfrist dem Einbürgerungsanspruch nicht mehr entgegenstehen. [...]
Selbst wenn man mit dem Verwaltungsgericht annähme, dass den Klägern die aktuell fehlende Lebensunterhaltssicherung zuzurechnen wäre, [...] ließe sich der vom Bundesverwaltungsgericht im Staatsangehörigkeitsrecht entwickelte Rechtsgedanke des Nichtmehreinstehenmüssens für vergangenes Verhalten aufgrund Zeitablaufs auf die Erteilung der von den Klägern begehrten Niederlassungserlaubnisse aus denselben Gründen wie im Falle der Einbürgerung, die die stärkste Form der Aufenthaltsverfestigung darstellt, übertragen. In dem danach in Anlehnung an den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG maßgeblichen Zeitraum des rechtmäßigen Voraufenthalts von fünf Jahren, hätten die Kläger die fehlende Lebensunterhaltssicherung nicht mehr zu vertreten, da der Kläger zu 1. seit April 2019 und die Klägerin zu 2. seit März 2019 vollständig erwerbsunfähig sind. [...]
bb) Auch die Klägerin zu 2. verfügt zur Überzeugung des Senats über ausreichende Sprachkenntnisse im vorgenannten Sinne. Nach der Definition des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen [...] erfordert das Niveau B1 eine fortgeschrittene Sprachverwendung. [...] Wenngleich die Klägerin zu 2. keine Unterlagen über das (erfolgreiche) Absolvieren eines Deutschkurses vorgelegt hat, ergibt sich bei ihr [...] das Vorhandensein des erforderlichen Sprachniveaus B1 zur Überzeugung des Senats aus folgenden Umständen: Mit Bescheid vom 27. September 2016 hat der Beklagte den Nachweis über jedenfalls hinreichende mündliche Sprachkenntnisse auf dem nur eine Stufe unter B1 liegenden Niveau A2 [...] durch das Führen eines Gesprächs der Klägerin zu 2. ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers am 13. September 2016 in der Ausländerbehörde ausdrücklich als erbracht angesehen. [...] Seit diesen Feststellungen, an denen sich der Beklagte festhalten lassen muss, sind zwischenzeitlich mehr als sieben Jahre vergangen, sodass der Senat unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung davon überzeugt ist, dass sich die Sprachkenntnisse der Klägerin zu 2. im zeitlichen Verlauf noch weiter verbessert haben. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass die Klägerin zu 2. das für die Erstellung ihres Pflegegutachtens erforderliche Gespräch mit der begutachtenden Pflegefachkraft, das bereits im Jahr 2019, mithin vor fünf Jahren stattfand, selbst flüssig und gut verständlich geführt hat. [...]
g) Die Kläger verfügen auch über die nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr . 8 AufenthG erforderlichen Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensführung im Bundesgebiet. [...]
bb) Obschon die Klägerin zu 2. hierfür keine Nachweise vorgelegt hat, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass auch sie über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt. Denn in seinem Bescheid vom 27. September 2016 hat der Beklagte für die Klägerin zu 2. bejaht, dass alle Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AufenthG, die Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet beinhalten (§ 25b Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), vorliegen. Daran muss sich der Beklagte festhalten lassen. [...]
i) Erfüllt die Klägerin zu 2. danach die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 i.V.m. § 9 Abs. 2 AufenthG, kann ihr eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden.
Im Rahmen der insoweit von der Ausländerbehörde nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung ist [...] insbesondere [...] auch die inzwischen fast 30jährige, überwiegend rechtmäßige Aufenthaltsdauer der Klägerin zu 2. im Bundesgebiet sowie die ihr - gemeinsam mit dem Kläger zu 1. - für ihre minderjährigen Enkelkinder und ihren minderjährigen Neffen deutscher Staatsangehörigkeit übertragene Pflegschaft mit wesentlichen Teilen des Sorgerechts ebenso einzustellen wie die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu 2. aus gesundheitlichen Gründen. [...]