Schutzzuerkennung in EU-Mitgliedstaat steht Auslieferung ins Herkunftsland entgegen:
1. Die wirksame Flüchtlingszuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat steht einer Auslieferung der betroffenen Person in das Herkunftsland entgegen.
2. Die für die Auslieferung zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats muss unverzüglich einen Informationsaustausch mit der Behörde des anderen Mitgliedstaats einleiten, die die gesuchte Person als Flüchtling anerkannt hat. Hierbei muss sie diese Behörde über das entsprechende Auslieferungsersuchen informieren, ihr ihre Stellungnahme zu diesem Ersuchen übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist sowohl die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, als auch ihre Entscheidung über die Frage, ob dieser Person die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen ist, zu übermitteln.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
22 A. ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Herkunft. Er reiste im Jahr 2010 aus der Türkei aus.
23 Mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. Mai 2010 erkannten die italienischen Behörden A. als Flüchtling an, da ihm wegen seiner Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) politische Verfolgung durch die türkischen Behörden drohe. Die Flüchtlingseigenschaft gilt bis zum 25. Juni 2030. 24 Seit Juli 2019 hält sich A. in Deutschland auf.
25 Aufgrund eines am 3. Juni 2020 von einem türkischen Gericht ausgestellten Haftbefehls wurde A. über die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) zur Festnahme zum Zwecke der Auslieferung an die Türkei zur Strafverfolgung wegen Totschlags ausgeschrieben. [...]
26 Am 18. November 2020 wurde A. in Deutschland festgenommen und zunächst in vorläufige Auslieferungshaft, dann bis zum 14. April 2022 in förmliche Auslieferungshaft genommen. [...]
37 Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 sowie Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass in dem Fall, dass ein von einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannter Drittstaatsangehöriger in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, Gegenstand eines Auslieferungsersuchens seines Herkunftsdrittstaats ist, dieser andere Mitgliedstaat im Rahmen der Prüfung des Auslieferungsersuchens an die Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden und daher verpflichtet ist, die beantragte Auslieferung abzulehnen. [...]
52 Da die Entscheidung eines Mitgliedstaats, dem Ersuchen des Herkunftsstaats auf Auslieferung eines Drittstaatsangehörigen stattzugeben, dem [...] in einem anderen Mitgliedstaat gemäß den Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts über den internationalen Schutz die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Folge hätte, dass diesem Drittstaatsangehörigen alle in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Rechte und Leistungen genommen würden, ist festzustellen, dass das in ersterem Mitgliedstaat durchgeführte Auslieferungsverfahren im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta die Durchführung des Rechts der Union betrifft. [...]
57 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen oder genießen, das in dieser Vorschrift verbürgte Recht auch tatsächlich in Anspruch nehmen können [...].
58 Wie vom Generalanwalt [...] ausgeführt, hätte, solange die gesuchte Person die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 und Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention besitzt, ihre Auslieferung an den Herkunftsdrittstaat zur Folge, dass ihr die Möglichkeit genommen wird, das in Art. 18 der Charta verbürgte Recht tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Solange diese Person also die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, verbietet Art. 18 der Charta ihre Auslieferung an das Drittland, aus dem sie geflohen ist und in dem ihr Verfolgung droht. [...]
60 Insoweit reicht der Umstand, dass die Strafverfolgung, zu deren Zweck um die Auslieferung von A. ersucht wird, auf einen anderen Sachverhalt als diese Verfolgung gestützt wird, nicht aus, um diese Gefahr auszuschließen.
61 Zum anderen ist gemäß Art. 19 Abs. 2 der Charta die Abschiebung einer Person in einen Staat, in dem für sie das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht, uneingeschränkt verboten [...]
62 Folglich muss sich der ersuchte Mitgliedstaat, wenn sich die von einem Auslieferungsersuchen betroffene Person auf ein ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Fall der Auslieferung beruft, vor einer etwaigen Auslieferung vergewissern, dass diese die in Art. 19 Abs. 2 der Charta verbürgten Rechte nicht beeinträchtigen wird [...].
63 [...] Die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats muss sich bei dieser Prüfung auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen, die sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben [...].
64 Im Zusammenhang mit der Beurteilung der Gefahr einer Verletzung von Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 sowie von Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta stellt der Umstand, dass ein anderer Mitgliedstaat der gesuchten Person gemäß den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, einen besonders gewichtigen Gesichtspunkt dar, den die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats zu berücksichtigen hat. Daher muss eine die Flüchtlingseigenschaft zuerkennende Entscheidung, solange diese Eigenschaft vom zuerkennenden Mitgliedstaat nicht aberkannt wurde, nach diesen Vorschriften dazu führen, dass diese Behörde die Auslieferung ablehnt. [...]
68 Angesichts der Bedeutung einer solchen Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Beurteilung eines Auslieferungsersuchens des Herkunftslands der Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, ist [...] festzustellen, dass nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit [...] die für die Auslieferung zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats unverzüglich einen Informationsaustausch mit der Behörde des anderen Mitgliedstaats, die die gesuchte Person als Flüchtling anerkannt hat, einleiten muss. Hierbei muss sie diese Behörde über das entsprechende Auslieferungsersuchen informieren, ihr ihre Stellungnahme zu diesem Ersuchen übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist sowohl die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, als auch ihre Entscheidung über die Frage, ob dieser Person die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen ist, zu übermitteln.
69 Zum einen soll dieser Informationsaustausch die für die Auslieferung zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats in die Lage versetzen, die ihr gemäß Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta obliegenden Überprüfungen in voller Kenntnis der Sachlage vorzunehmen.
70 Zum anderen ermöglicht dieser Informationsaustausch es der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaats, die Flüchtlingseigenschaft gegebenenfalls nach Art. 14 der Richtlinie 2011/95 unter uneingeschränkter Achtung der in Art. 45 der Richtlinie 2013/32 verankerten Garantien abzuerkennen.
71 In Anbetracht dessen steht das Unionsrecht einer Auslieferung nur dann nicht entgegen, wenn die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, der der gesuchten Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, beschließt, ihr diese Eigenschaft nach Art. 14 der Richtlinie 2011/95 abzuerkennen, und wenn die für die Auslieferung zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Person die Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr besitzt und für sie im Fall ihrer Auslieferung an den ersuchenden Drittstaat kein ernsthaftes Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.
72 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass ein von einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannter Drittstaatsangehöriger in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, Gegenstand eines Auslieferungsersuchens seines Herkunftslands ist, der ersuchte Mitgliedstaat die Auslieferung nicht zulassen darf, wenn er nicht einen Informationsaustausch mit der Behörde, die der gesuchten Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, eingeleitet und diese Behörde die Flüchtlingseigenschaft nicht aberkannt hat. [...]