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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 20.06.2024 - C-540/22 - SN u.a. gg. Niederlande - asyl.net: M32489
https://www.asyl.net/rsdb/m32489
Leitsatz:

Zur Beantragung von Aufenthaltserlaubnissen für innerhalb der EU entsandte Drittstaatsangehörige:

1. Drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer*innen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, ist weder in dem Mitgliedstaat, in dem sie beschäftigt sind, noch in dem Mitgliedstaat, in den sie entsandt werden, automatisch ein "abgeleitetes Aufenthaltsrecht" zuzuerkennen.

2. Es ist mit Art. 56 AEUV vereinbar, ein in einem Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat eine Dienstleistung mit einer Dauer von über drei Monaten erbringt, zu verpflichten, für jeden drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer, den es in diesen Mitgliedstaat entsenden möchte, eine Aufenthaltserlaubnis einzuholen.

3. Es ist mit Art. 56 AEUV vereinbar, die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis für entsandte Arbeitnehmer*innen auf die Gültigkeitsdauer der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu begrenzen, über die diese im Mitgliedstaat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers verfügen.

4. Die Höhe der Gebühren für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis für entsandte Arbeitnehmer*innen muss verhältnismäßig sein.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 12.07.2018 - C-89/17 Vereinigtes Königreich gg. Banger - asyl.net: M26583; EuGH, Urteil vom 05.06.2018 - C-673/16 Coman u.a. gg. Rumänien (Asylmagazin 10-11/2018, S. 378 f.) - asyl.net: M26276)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, Entsendung, Dienstleistungsfreiheit, Wanderarbeitnehmer, Aufenthaltserlaubnis, Gültigkeitsdauer, Gebühren,
Normen: AEUV Art. 56, AEUV Art. 57, SDÜ Art. 21 Abs. 1, VO 2016/399 Art. 6, VO 1030/2002 Art. 1, VO 883/2004 Art. 12 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 3 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2006/123/EG Art. 17, RL 2009/52/EG Art. 3 Abs. 1, RL 2011/98/EU Art. 6, RL 2011/98/EU Art. 7,
Auszüge:

[...]

33 Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind ukrainische Staatsangehörige und Inhaber einer von den slowakischen Behörden ausgestellten befristeten Aufenthaltserlaubnis, die bis einschließlich 21. November 2020 gültig war. Sie arbeiten für die ROBI spol s.r.o. (im Folgenden: ROBI), eine Gesellschaft slowakischen Rechts, die sie an die Ivens NV, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, entsandt hat, um im Hafen von Rotterdam (Niederlande) einen Auftrag zu erledigen. [...]

36 Der IND stellte die beantragten Aufenthaltserlaubnisse im Namen des Staatssekretärs aus. Ihre Gültigkeitsdauer wurde jedoch auf die Gültigkeitsdauer der den Klägern des Ausgangsverfahrens ausgestellten befristeten Aufenthaltserlaubnisse beschränkt, d. h. auf eine kürzere Dauer als die Dauer der Tätigkeit, für die sie in die Niederlande entsandt werden sollten.

37 Zu einem vom vorlegenden Gericht nicht genannten Zeitpunkt legten die Kläger des Ausgangsverfahrens jeweils Widerspruch gegen die Entscheidung ein, mit denen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Dabei wandten sie sich sowohl gegen die Pflicht zur Einholung einer Aufenthaltserlaubnis für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen als auch gegen die Gültigkeitsdauer der ausgestellten Aufenthaltserlaubnisse und die Gebühren für die Bearbeitung ihrer Anträge. [...]

48 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der durch die Art. 56 und 57 AEUV gewährleistete freie Dienstleistungsverkehr dahin auszulegen ist, dass drittstaatsangehörigen Arbeitnehmern, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, automatisch ein "abgeleitetes Aufenthaltsrecht" zuzuerkennen ist. [...]

51 Zwar verweist der Begriff "abgeleitetes Aufenthaltsrecht", wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ganz allgemein auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die aus der Richtlinie 2004/38 kein Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, herleiten können, in bestimmten Fällen auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines "abgeleiteten Rechts" erreichen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 23, und vom 12. Juli 2018, Banger, C-89/17, EU:C:2018:570, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52 Diese Lösung beruht jedoch auf der Erwägung, dass der Unionsbürger, wenn dieser Drittstaatsangehörige kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht hätte, davon abgehalten würde, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu verlassen, um sein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV auszuüben, weil er nicht die Gewissheit hätte, dass er das Familienleben, das er im Zuge eines tatsächlichen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat mit dem Drittstaatsangehörigen entwickelt oder gefestigt hat, in seinem Herkunftsmitgliedstaat fortsetzen könnte [...].

55 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 56 und 57 AEUV dahin auszulegen sind, dass drittstaatsangehörigen Arbeitnehmern, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, weder in dem Mitgliedstaat, in dem sie beschäftigt sind, noch in dem Mitgliedstaat, in den sie entsandt werden, automatisch ein "abgeleitetes Aufenthaltsrecht" zuzuerkennen ist.

56 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen, wenn es in ersterem Mitgliedstaat eine Dienstleistung mit einer Dauer von über drei Monaten erbringt, nicht nur verpflichtet ist, den Behörden dieses Mitgliedstaats die Dienstleistung zu melden, sondern auch für jeden drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer, den es in diesen Mitgliedstaat entsenden möchte, eine Aufenthaltserlaubnis einzuholen. [...]

67 Nach Art. 56 AEUV sind Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, verboten. [...]

74 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine unterschiedslos anwendbare nationale Regelung trotz der mit ihr verbundenen Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gerechtfertigt sein, wenn sie auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht [...].

92 Daher kann eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit dem Ziel einer Verbesserung der Rechtssicherheit für die entsandten Arbeitnehmer und einer Erleichterung der Kontrollen durch die Verwaltung gerechtfertigt werden und ist in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht beschriebenen Voraussetzungen, unter denen die Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden, als verhältnismäßig anzusehen.

93 Was viertens die Rechtfertigung betrifft, die auf die Notwendigkeit gestützt wird, zu kontrollieren, dass der betreffende Arbeitnehmer keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, ist zunächst festzustellen, dass Art. 52 Abs. 1 AEUV, auf den Art. 62 AEUV verweist, ausdrücklich den Schutz der öffentlichen Ordnung als Grund nennt, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen kann.

94 Zwar dürfen Gründe der öffentlichen Ordnung nach ständiger Rechtsprechung gegenüber einer Person nur angeführt werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt; sie dürfen überdies nicht rein wirtschaftlichen Zwecken dienen [...].

95 Gleichwohl muss es den Mitgliedstaaten möglich sein, eine solche Kontrolle vorzunehmen. [...]

101 Insbesondere kann das Verfahren zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, soweit es erfordert, dass der Betroffene physisch in den Räumlichkeiten einer zuständigen Behörde anwesend ist, anders als das Meldeverfahren, das auf einer Kontrolle anhand der erhaltenen oder bereits vorhandenen Informationen beruht, eine eingehende Prüfung der Identität des Betroffenen ermöglichen, der bei der Bekämpfung von drohenden Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung ganz besondere Bedeutung zukommt.

102 Folglich ist festzustellen, dass das Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung es rechtfertigen kann, dass ein Mitgliedstaat von den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringern, die drittstaatsangehörige Arbeitnehmer entsenden wollen, verlangt, dass sie nach Ablauf einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten in ersterem Mitgliedstaat für jeden dieser Arbeitnehmer eine Aufenthaltserlaubnis einholen, und dass dieser Mitgliedstaat die Ausstellung einer solchen Erlaubnis dabei von der Überprüfung abhängig macht, dass der Betroffene keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, sofern die hierzu durchgeführten Kontrollen nicht zuverlässig anhand der Informationen, deren Übermittlung der Mitgliedstaat im Meldeverfahren verlangt oder vernünftigerweise hätte verlangen können, durchgeführt werden konnten; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

103 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen, wenn es in ersterem Mitgliedstaat eine Dienstleistung mit einer Dauer von über drei Monaten erbringt, verpflichtet ist, im Aufnahmemitgliedstaat für jeden drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer, den es dorthin entsenden möchte, eine Aufenthaltserlaubnis einzuholen, und dass es zum Erhalt dieser Erlaubnis zuvor die Dienstleistung, zu deren Erbringung die Arbeitnehmer zu entsenden sind, meldet und den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats die Aufenthaltserlaubnisse, über die diese Arbeitnehmer im Mitgliedstaat der Niederlassung des Unternehmens verfügen, sowie ihren Arbeitsvertrag übermittelt. [...]

111 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 AEUV einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der erstens die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis, die einem in diesen Mitgliedstaat entsandten drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer erteilt werden kann, jedenfalls nicht eine in dieser Regelung festgelegte Dauer überschreiten darf, die somit kürzer sein kann als die für die Erbringung der Leistung, für die dieser Arbeitnehmer entsandt wird, erforderliche Dauer, zweitens die Gültigkeitsdauer dieser Aufenthaltserlaubnis auf die Gültigkeitsdauer der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis begrenzt ist, über die der Betroffene in dem Mitgliedstaat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers verfügt, und drittens die Ausstellung dieser Aufenthaltserlaubnis die Zahlung von Gebühren erfordert, die höher sind als die Gebühren für die Ausstellung eines Nachweises über den rechtmäßigen Aufenthalt eines Unionsbürgers. [...]

116 Die Vorgabe, dass die Gültigkeit der vom Aufnahmemitgliedstaat erteilten Erlaubnisse jedenfalls nicht eine bestimmte Dauer überschreiten darf, [...] ist nur dann geeignet, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit durch den Arbeitgeber mit hinreichender Sicherheit und Unmittelbarkeit zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, wenn diese ursprüngliche Gültigkeitsdauer offensichtlich zu kurz ist, um den Bedürfnissen der Mehrheit der Dienstleistungserbringer zu entsprechen, oder wenn eine Verlängerung der Gültigkeit jedenfalls nur unter Erfüllung übermäßiger Formalitäten erreicht werden kann. [...]

118 Da ein Dienstleistungserbringer seine Dienstleistungen nur dann rechtmäßig im Mitgliedstaat seiner Niederlassung erbringen und infolgedessen die Dienstleistungsfreiheit in Anspruch nehmen kann, wenn die Arbeitnehmer, die er beschäftigt, in Einklang mit dem Recht dieses Mitgliedstaats beschäftigt sind, kann es nicht als Verstoß gegen seine Dienstleistungsfreiheit angesehen werden, wenn ein Mitgliedstaat die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnisse, die er den in sein Hoheitsgebiet entsandten Drittstaatsangehörigen ausstellt, auf die Dauer der Arbeitserlaubnisse beschränkt, die diese Arbeitnehmer im Mitgliedstaat seiner Niederlassung besitzen.

119 Was schließlich den Umstand betrifft, dass die Gebühren [...] höher sind als die Gebühren, die für die Ausstellung eines Aufenthaltsnachweises an einen Unionsbürger zu entrichten sind, kann nach ständiger Rechtsprechung eine Maßnahme, mit der als Gegenleistung für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis durch einen Mitgliedstaat Gebühren erhoben werden, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur dann als mit Art. 56 AEUV vereinbar angesehen werden, wenn die Gebühren nicht überhöht oder nicht unangemessen sind [...].

121 Folglich lässt sich aus dem Umstand, dass die Gebühren, die für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis für einen entsandten drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer anfallen, höher sind als diejenigen, die für einen Aufenthaltsnachweis für einen Unionsbürger verlangt werden, für sich genommen grundsätzlich nicht schließen, dass diese Gebühren überhöht oder unangemessen wären und folglich ein Verstoß gegen Art. 56 AEUV vorliegt, er kann aber ein gewichtiges Indiz für ihre Unverhältnismäßigkeit darstellen [...].

122 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der erstens die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis, die einem in diesen Mitgliedstaat entsandten drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer erteilt werden kann, jedenfalls nicht eine in dieser Regelung festgelegte Dauer überschreiten darf, die somit kürzer sein kann als die für die Erbringung der Leistung, für die dieser Arbeitnehmer entsandt wird, erforderliche Dauer, zweitens die Gültigkeitsdauer dieser Aufenthaltserlaubnis auf die Gültigkeitsdauer der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis begrenzt ist, über die der Betroffene im Mitgliedstaat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers verfügt, und drittens die Ausstellung dieser Aufenthaltserlaubnis die Zahlung von Gebühren erfordert, die höher sind als die Gebühren für die Ausstellung eines Nachweises über den rechtmäßigen Aufenthalt eines Unionsbürgers, sofern erstens die ursprüngliche Gültigkeitsdauer dieser Erlaubnis nicht offensichtlich zu kurz ist, um den Bedürfnissen der meisten Dienstleistungserbringer zu entsprechen, zweitens es möglich ist, diese Erlaubnis ohne übermäßige Formalitäten verlängern zu lassen, und drittens diese Gebühren annähernd den Verwaltungskosten entsprechen, die durch die Bearbeitung eines Antrags auf Erteilung einer solchen Erlaubnis entstehen. [...]