BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2023 - 2 BvR 1368/23 - asyl.net: M32480
https://www.asyl.net/rsdb/m32480
Leitsatz:

Keine Auslieferung bei mangelnder Teilnahmemöglichkeit der angeklagten Person an Strafverhandlung:

1. Ist wegen der großen Entfernung zwischen Strafgericht und Haftort eine persönliche Teilnahme der angeklagten Person an der mündlichen Verhandlung im Strafverfahren nicht gewährleistet, ist eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zu prüfen.

2. Der persönlichen Anwesenheit der angeklagten Person kommt in einem erstinstanzlichen Verfahren eine höhere Bedeutung zu als in einer Rechtsmittelverhandlung. Die Gewährung der Teilnahme mittels Videokonferenztechnik muss im Einzelfall ein legitimes Ziel verfolgen.

3. Die nicht ausreichende Aufklärung der Frage, ob die auszuliefernde Person in einer Weise an der erstinstanzlichen strafrechtlichen Hauptverhandlung beteiligt sein wird, die dem Grundsatz des fairen Verfahrens genügt, verletzt das Recht dieser Person auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Auslieferung, faires Verfahren, Zusicherung,
Normen: EMRK Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 6 Abs. 3 Bst. c, IRG § 33, IRG § 77
Auszüge:

[...]

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen zum Zwecke der Strafverfolgung an die Republik Türkei.

I.

Dem Auslieferungsverfahren liegt ein Haftbefehl des 8. Schwurgerichts von Izmir vom 14. Juli 2021 zugrunde. [...]

Das Auswärtige Amt ersuchte mit Verbalnote vom 16. Dezember 2022 die Botschaft der Republik Türkei um Übermittlung ausdrücklicher, völkerrechtlich verbindlicher und auf den Einzelfall bezogener Zusicherungen, [...] dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç inhaftiert werde. [...]

Der Beschwerdeführer beantragte mit Schriftsätzen vom 13. Januar 2023 und 2. Februar 2023, den Haftbefehl wegen Unzulässigkeit der Vollstreckung der Auslieferungshaft aufzuheben. [...] In der Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 16. Dezember 2022 werde erstmals konkret die Haftanstalt in Yalvaç genannt. Diese liege über 400 Kilometer entfernt von der Stadt Izmir, in welcher sich das  erkennende Gericht befinde. Es sei somit davon auszugehen, dass er zur Wahrnehmung gerichtlicher Termine nach Izmir und dort in eine andere Haftanstalt als diejenige in Yalvaç verbracht werde. [...]

Mit Verbalnote vom 22. Februar 2023 teilte die Botschaft der Republik Türkei mit, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç untergebracht werde. [...]

Der Beschwerdeführer teilte mit Schriftsätzen vom 3. Mai und 26. Mai 2023 mit, wenn er in der Haftanstalt in Yalvaç inhaftiert werde, aber in Izmir vor Gericht gestellt werden solle, könne angesichts einer Fahrzeit von mindestens rund acht Stunden nicht gewährleistet werden, dass der Hin- und Rücktransport an einem Tag erfolgen könne. Vor diesem Hintergrund sei zu erwarten, dass sich ein Strafgefangener zur Aufgabe seines Anwesenheitsrechts in der Hauptverhandlung gezwungen sehe oder zumindest seine Zustimmung zu einer Videoübertragung protokolliert werde. [...]

Das Oberlandesgericht erklärte mit Beschluss vom 4. September 2023 die Auslieferung des Beschwerdeführers und die Aufschiebung seiner Übergabe bis zur Erledigung der in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Strafansprüche für zulässig. [...]

III.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im tenorierten Umfang offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle vom 4. September 2023 verletzt den Beschwerdeführer, soweit seine Auslieferung an die türkischen Behörden für zulässig erklärt wird, in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG. [...]

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt [...]. Dabei gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle [...]. Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen [...]. Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz der betroffenen Person [...].

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt [...]. Sie sind zudem − insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind − verpflichtet zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren [...].

Zur Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. [...]

Für ein faires Strafverfahren ist es von zentraler Bedeutung, dass der Angeklagte persönlich am Verfahren teilnimmt [...]. Auch wenn das Recht auf persönliche Anwesenheit im Verfahren nicht ausdrücklich in Art. 6 Abs. 1 EMRK benannt wird, so folgt doch aus Sinn und Zweck dieser Gewährleistung, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, an der Verhandlung teilzunehmen [...]. Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten können allerdings mit der Konvention vereinbar sein, wenn der Angeklagte auf sein Anwesenheits- und Verteidigungsrecht verzichtet hat oder ein Gericht die ihm zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft, nachdem es den Angeklagten gehört hat [...]

Der persönlichen Anwesenheit des Angeklagten kommt in einer Rechtsmittelverhandlung nicht dieselbe Bedeutung zu wie im erstinstanzlichen Verfahren [...].

Im Hinblick auf den Einsatz von Videokonferenztechnik in einem Rechtsmittelverfahren befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention einer Teilnahme des abwesenden Angeklagten an der Verhandlung mittels Videokonferenztechnik nicht prinzipiell entgegenstehe, wenn diese Möglichkeit im nationalen Recht vorgesehen sei und der Einsatz dieser Technik im Einzelfall ein legitimes Ziel verfolge [...]

Nach diesen Maßstäben hält die Zulässigkeitsentscheidung vom 4. September 2023 einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Oberlandesgericht hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung in einer Weise an der erstinstanzlichen strafrechtlichen Hauptverhandlung beteiligt sein wird, die dem Grundsatz des fairen Verfahrens genügt, und dadurch sein Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

Das Oberlandesgericht hat zwar die einschlägigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht des Angeklagten auf Anwesenheit im Strafverfahren herangezogen, die dort vorgenommenen Differenzierungen aber nur unzureichend berücksichtigt und den an den Vorgaben des Gerichtshofs zu messenden Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt. [...] Obwohl sich die aus §§ 30, 73 IRG fließende Pflicht des Oberlandesgerichts zur umfassenden Sachaufklärung jedenfalls dann auch auf das insoweit einschlägige (Prozess-)Recht des ersuchenden Staates bezieht, wenn der Verfolgte – wie hier – substantiiert darlegt, im Falle seiner Auslieferung einem Strafverfahren ausgesetzt zu sein, in dem seinem Recht auf Anwesenheit nicht genügt werde [...], hat das Oberlandesgericht nicht ermittelt, wie das Anwesenheitsrecht im Strafverfahren nach türkischem Recht konkret ausgestaltet ist und unter welchen Bedingungen – etwa nach einer eindeutigen Verzichtserklärung seitens des Angeklagten [...] – Einschränkungen zugelassen sind. [...]

Ausgehend von der Feststellung im Beschluss vom 5. Juni 2023, die Teilnahme eines inhaftierten Angeklagten an einer außerhalb der Justizvollzugsanstalt durchgeführten Gerichtsverhandlung per Bild- und Tonübertragung sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit dem aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar, sofern bestimmte Bedingungen eingehalten würden, hat das Oberlandesgericht weder die in der einschlägigen Rechtsprechung angelegte Differenzierung zwischen erstinstanzlichen Strafgerichtsverhandlungen und Rechtsmittelverfahren berücksichtigt [...] noch ermittelt, welches "legitime Ziel" mit der Nutzung der Videokonferenztechnik im konkreten Fall verfolgt wird.

Angesichts der dargestellten Defizite der Sachverhaltsaufklärung und insbesondere der offengelassenen Frage, ob der Beschwerdeführer nach seiner freien Entscheidung an der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung persönlich teilnehmen kann beziehungsweise diesbezüglich eine Wahl hat, genügen die angegriffenen Beschlüsse den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Dies gilt selbst angesichts des Umstands, dass sich das Oberlandesgericht eingehend mit den technischen Modalitäten des Einsatzes audiovisueller Übertragungstechnik während der anstehenden Hauptverhandlung vor dem Strafgericht in Izmir auseinandergesetzt und insoweit einzelfallbezogene Zusicherungen eingeholt hat. [...]